Wenn das Angebot die Nachfrage bestimmt

Ist das Glas jetzt drei Fünftel leer oder zwei Fünftel voll? Der Hightech-Verband Bitkom hat in seinem jüngsten ERP-Barometer – das sechste seiner Art – ermittelt, dass 59 Prozent der Softwarehäuser, die Unternehmenslösungen für das Enterprise Resource Planning anbieten, eine starke Nachfrage nach On-Premises-Lösungen wahrnehmen. Also zur Klarstellung: nicht drei von fünf Anwendern fragen nach ERP-Lösungen, die auf eigenen Servern ablaufen sollen, sondern drei von fünf Anbietern beobachten diese Nachfrage.

Nun ist es ja so, dass die ERP-Anbieter im Allgemeinen selbst nicht gerade vorneweg marschieren, wenn es um Cloud-Anwendungen geht. Sie bieten allenfalls Hosting-Lösungen in Verbindung mit Infrastructure as a Service an. Und die werden auch von den ERP-Anwendern, die sich für eine Cloud-Lösung entscheiden, zusätzlich genutzt. Tatsächlich gibt es aber statt der traditionellen Vorteilsargumente wie eingesparte Betriebskosten kaum einen triftigen Grund, eine klassische ERP-Lösung in die Cloud zu verschieben. Globale Verfügbarkeit etwa ist für viele Anwender der Grund, eine Cloud-Variante zu wählen, wobei sie die Private Cloud bevorzugen. So lassen sich mobile und stationäre Nutzer rund um den Globus mit einer integrierten Lösung versorgen – abgesichert durch einen VPN-Tunnel. Nur unterscheidet sich der Einsatznutzen darin kaum von dem einer stationären Lösung. Ein zusätzlicher Nutzen entsteht so nicht unbedingt.
Richtige Innovationen sind im ERP-Umfeld aber eher selten – die Branche ist konservativ. Insofern kann es nicht überraschen, dass auch ihre Kunden sich überwiegend konservativ entscheiden. In diesem Fall bestimmt das Angebot die Nachfrage. Wo kein nennenswerter funktionaler Zusatznutzen durch den Wechsel in die Cloud entsteht, dort entsteht auch keine Nachfrage. Und viele konservative Software-Unternehmen scheuen den Wechsel im Geschäftsmodell. Sie wollen On-Premises verkaufen, weil sie dem Cloud-basierten Geschäftsmodell nicht trauen.
Dabei zeichnen sich am Horizont genügend Anwendungsbereiche ab, die sich durch Services aus der Cloud verbessern lassen. Für Big Data-Analysen werden Rechenleistungen benötigt, die ständig vorzuhalten sich für viele mittelständische Unternehmen nicht unbedingt lohnt. Zugleich werden dabei Algorithmen benötigt, die von ERP-Anbietern nicht direkt, sondern höchstens über Partner angeboten werden. Es liegt also nahe, diese Algorithmen gleich über Cloud-Services einzubinden.
Gerade bei Installationen rund um das Internet der Dinge sind Cloud-basierte Infrastrukturen Voraussetzung. Wenn Werkzeuge und Werkstücke Daten über ihren Status millionenfach weitergeben, dann bedarf es einer Cloud-Infrastruktur, über die diese Informationen auf der Ebene der Manufacturing Execution gebündelt und für das ERP-System aufbereitet werden. Dann wäre es aus Performance-Gründen auch sinnvoll, wenn die MES-nahen Funktionen der ERP-Lösung ebenfalls in die Cloud abwandern.
Wenn die Kundenkommunikation über viele Kanäle – soziale Medien, eCommerce-Plattformen, Direktvertrieb und Handelsorganisationen – geleitet wird, ergibt sich eine vergleichbare Anforderung an eine Infrastruktur, die diese Internet-basierte Kommunikation bündelt und für das ERP-System zusammenfasst. Und auch dann erscheint es sinnvoll, weitere Teile der Unternehmenslösung in die Cloud zu verschieben.
Die ERP-Szene ist in Bewegung, wie auch ein zur CeBIT veröffentlichtes Positionspapier des Bitkom zur Zukunft der Unternehmenslösungen feststellt. Die konservativen Teile der Softwareszene sollten den Leitfaden „ERP nach der digitalen Transformation“ unbedingt lesen.

Digitalisierung: Keine Investition ohne Inspiration

Wer nichts macht, macht nichts verkehrt – abgesehen von der Tatsache natürlich, dass Nichtstun ohnehin der größte Fehler ist. Dies gilt analog auch für die digitale Welt. Im Sommer 2016 sagten drei von vier mittelständischen Unternehmen, sie hätten noch keine ausreichende Digitalstrategie. Das aber war durchaus ein Fortschritt, denn ein Jahr zuvor hatten ungefähr ebenso viele noch keinen Schimmer, dass sie eine brauchten.

Aber damit beginnen die Probleme: Nach der IT-Trendstudie von Capgemini haben 60 Prozent der befragten CIOs Schwierigkeiten mit dem Fokus und der Umsetzung ihrer Digitalstrategie. Im letzten Jahr waren es nur 41 Prozent. Das scheint durchaus ein Beweis dafür zu sein, dass die Beschäftigung mit dem Thema an Ernsthaftigkeit und Tiefe zugenommen hat. Jetzt fördern die Digitalisierungsprojekte Probleme auf praktisch allen Ebenen im Unternehmen zutage.

Die Autoren der Studie vermuten allerdings auch einen Mangel an Inspiration bei der Innovation: „Neben der fehlenden Koordination der Projekte, dem Know-how und den entsprechenden Mitarbeitern mangelt es vor allem an Ideen“, beklagen die Autoren der IT-Trends und stellen fest, dass die meisten Unternehmen derzeit damit beschäftigt seien, überhaupt erst einmal Informationen zu sammeln und die internen Prozesse digital abzubilden und zu vernetzen. Woran es aber völlig fehle, sei eine konkrete Vorstellung davon, wie daraus neue Produkte und Services entwickelt werden können. Das Fazit: „Von Innovation ist im Moment also noch wenig zu spüren.“

In der Tat dürften sich die Investitionen in smartere Maschinen und besser vernetzte Systeme so lange nicht wirklich auszahlen, wie damit Business as usual fortgeführt wird. Die eigentliche Herausforderung bei der Definition einer Digitalstrategie besteht nicht im Austausch des Maschinenparks, sondern im Neuzuschnitt der Abteilungen. Und dabei zeigt sich, das neue Kompetenzen benötigt werden. Die aber sind auf dem ohnehin leergefegten Arbeitskräftemarkt praktisch nicht zu finden. Doch Schulung und Weiterbildung ist nur dann eine Lösung, wenn man auch weiß, welche Expertise tatsächlich benötigt wird.

Und die ergibt sich schließlich aus einer Neudefinition von Produkten, Kundenbeziehungen und Märkten. Diese Erkenntnis jedenfalls diktierten Entscheider, deren Unternehmen ihre Produktion bereits auf das Internet der Dinge umgestellt zu haben glaubten, dem Beratungsunternehmen Vanson Bourne. Diese „Early IoT Adopters“, so der Namen der Studie über erste Erfahrungen auf dem Weg ins Digitale, fanden sich nach der Umstellung auf smarte Systeme eigentlich erst am Anfang des Projekts. Denn der Nutzen beispielsweise einer „Losgröße 1“-Strategie ist gering, wenn sich nicht auch Marketing und Vertrieb auf die Individualisierung der Kundenanfragen einstellen. Wer weiter Massenware produziert und klassische Lagerbestände vorhält, hat die Vorteile der Digitalisierung zwar noch nicht verspielt, aber zumindest wertvolle Chancen vertan.

Bis allerdings alle Abteilungen an einem Strang ziehen, vergehen Monate. Es braucht offensichtlich Zeit, bis alle Player im Unternehmen die gemeinsame Vision hinter einer Digitalstrategie teilen und für sich umsetzen. „Für sich“ könnte dabei schon der nächste Fehler sein, denn so vernetzt die digitalen Systeme sind, so abgeteilt sind Abteilungen in der klassischen Unternehmensorganisation. Diese Erkenntnis hat die Früheinsteiger offensichtlich völlig überrascht. Digitalisierung ist weniger eine technische Herausforderung, als vielmehr eine organisatorische. Wer das frühzeitig beherzigt und die eigene Unternehmensstruktur zunächst an die Digitalstrategie anpasst, kann offensichtlich schneller Nutzen aus den Investitionen in Informationstechnik und Maschinen ziehen. Der klassische Ansatz aber ist, erst die Technik zu ändern und dann die Organisation anzupassen.

Das aber wäre ein ebenso folgenschwerer Fehler wie Nichtstun – nur teurer.

Deutscher Komplexitäts-Komplex

Es ist alles noch viel komplexer – und das ist auch gut so. Oder doch nicht?

Unter dem Schlagwort „Industrie 4.0“ bastelt die Deutschland GmbH an ihrem neuesten Exportschlager. Denn die globale Vernetzung von Maschinen, Sensoren, Aktoren und menschlichen Akteuren soll den nächsten Schub bringen. Der Deutschen liebste Tugend, die kontinuierliche Geschäftsprozessoptimierung, soll durch „Industrie 4.0“ auf den nächsten Fertigungs- und Dienstleistungslevel gehoben werden.

Ein Mini-Kondratieff tut sich da auf, wie sich jetzt die Diskussionsteilnehmer in den Foren rund um die Messe transport logistic in München und bei der Fachtagung „Future Business Clouds“ in Berlin einig waren. „Industrie 4.0“ das ist im historischen Zusammengang nicht weniger als die vierte Stufe der industriellen Revolution, deren Vorstufen die Mechanisierung, Elektrifizierung und Automatisierung waren. Und jetzt eben Vernetzung im globalen Rahmen.

Dabei kommen die ersten Sendboten dieses Paradigmenwechsels noch recht überschaubar daher: InBin, zum Beispiel, der vom Fraunhofer Institut für Materialwirtschaft und Logistik entwickelte „intelligente Behälter“, mit dem Kommissionierprozesse verbessert und gesteuert werden können. Der Bin verfügt über ein Display, in dem die Kommissionieraufträge abgerufen, dargestellt und  die einzelnen Picks angezeigt und bestätigt werden können. InBin reiht sich damit auf den ersten Blick ein in die interaktiven Kommissionierstrategien Pick-to-Light oder Pick-by-Voice, die vor allem darauf abzielen, unnötige Handgriffe im Pick-Prozess zu eliminieren und die Fehlerquote zu reduzieren. Aber ist das dann schon „Industrie 4.0“?

Natürlich können solche intelligenten, intervernetzten, interaktiven Innovationen wie InBin mehr – und in Zukunft noch viel mehr. Sie sind aber vor allem flexible Subsysteme, die sich dynamisch mit anderen Subsystemen zu einem durchgängigen, belastungsfähigen Prozess zusammenfinden können, in dem sie dann auch ereignisgesteuert auf Veränderungen im Betriebsablauf reagieren. So wie das Fließband im Automobilbau, das erkennt, dass die Produktion hinter dem Zeitplan zurückbleibt und deshalb die nächste Just-in-Sequence-Lieferung kurzfristig verschiebt und so einen Stau vermeidet.

Das klingt nicht unbedingt nach Paradigmenwechsel. Aber das war der erste schwach leuchtende Glühdraht auch nicht – und doch hat er die elektrische Revolution eingeleitet, nein: eingeleuchtet.

Es ist gerade die Ingenieurleistung des deutschen Mittelstands, die die weltumspannende Vision von der Industrie der vierten Generation aus ihrem Komplexitäts-Komplex holt und in einer Art Evolution der kleinen Schritte zu umsetzbaren Innovatiönchen umdeutet.

Und das ist auch wirklich gut so. Besser kleine, schnuckelige Neuerungen im Rahmen einer großen Vision als sperrige, unverkäufliche Großkonzepte, die wegen ihrer Langfristperspektive zum Ladenhüter werden. Davon hatten wir im komplexitätsvernarrten Europa schon genug. Es sind vor allem die Amerikaner, die uns zeigen, wie man mit unvollkommenen, aber verkaufbaren Neuerungen einen globalen Wandel herbeiführen kann. „Industrie 4.0“ kommt nicht in einem großen, globalen Komplex, sondern In Trippelschritten. Da gehen Jahrzehnte ins Land.

Und auch das ist gut so.