Große Ideen haben meist viele Eltern – und Zeugungsdaten. Während die Vaterschaft für das World Wide Web relativ zweifelsfrei festgestellt werden kann, ist unter Internauten vollkommen umstritten, wann man den Geburtstag des Webs feiern sollte. Für viele hat der März 1989 als Datum Gültigkeit, als Tim Barners-Lee am CERN in Genf das erste Proposal zu einer Markup-Sprache schrieb, die die Nutzung des Internets vereinheitlichen sollte. Der Spiegel hat jetzt den 6. August 1991 ausgegraben – und ich stimme der Redaktion diesmal zu: An diesem Tag vor 20 Jahren wurde das World Wide Web scharf geschaltet. Ein paar staunend formulierte Gedankenschnipsel und ein Glückwunsch…
Die „großräumige Hypermedia-Initiative zur Informationsbeschaffung mit dem Ziel, den einheitlichen Zugang zu einer großen Sammlung von Dokumenten zu erlauben“ (O-Ton aus Barners-Lees Proposal) sollte eigentlich vor allem den Informationsfluss am Genfer Kernforschungszentrum CERN verbessern. Heute optimiert es nahezu jeden Informationsfluss: Es lässt Menschen in globalen Projekten kollaborieren, synchronisiert ganze Supply Chains im Herstellungsprozess, sorgt für sekundenschnelle Verbreitung von Meinungen und Messages und ruft Manager zu Meetings, Bürger zu Kundgebungen auf den Tahrir-Platz in Kairo und Feier-Biester zu Thessas Facebook-Party nach Hamburg Bramstedt.
(Fast) Jeder kann sich dieser Infrastruktur bedienen, um sich mit dem Rest der Welt abzustimmen. Die Revolution, die sich damit verbindet, ist fundamentaler als der Paradigmenwechsel, der mit der Verfügbarkeit eines persönlichen Computers zu Hause oder eines Handys in der Tasche verbunden wird. Aber so umwälzend die Veränderung auch sein mag, die vor 20 Jahren mit dem Scharfschalten der WWW-Funktionen begann, am Ende wird der Mensch in Gestalt des Users, des Surfers, des Shoppers, Bloggers, Posters oder Providers, doch auf eines zurückgeworfen: auf sich selbst.
Ob 1500-Seiten-Pamphlete zur Rechtfertigung unfassbarer Untaten, ob Veröffentlichung von Geheimdienstdokumenten, ob Hacken von sensiblen Adressdaten – am Ende ist es der Mensch als Wolf, der im Internet-Jagdrevier auf der Pirsch ist, Beute sucht oder einsam den Mond anheult. Das World Wide Web ist nichts ohne den Menschen und alles, was wir daraus machen.
Nichts hat die Welt und die Gemeinschaft so sehr verändert wie das Web. Die DDR hätte das World Wide Web wohl nicht überlebt. Ob die nordafrikanischen Staaten, in denen sich jetzt Widerstand über das World Wide Web organisiert, das Netz der Netze unverändert überleben, darf bezweifelt werden. Dass wir alle ein paar aus dem Ruder laufende Facebook-Partys überleben werden, scheint mir sicher.
2010 wurde das World Wide Web übrigens für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. Weil das für Institutionen nicht geht, sollte die Ehre Tim Barners-Lee zukommen, der für seinen Geniestreich bereits zum Knight of the British Empire geschlagen wurde. Vielleicht wird das WWW noch zum UNESCO-Weltkulturerbe – als größtes von Menschenhand geschaffenes Infrastrukturgebilde: größer als die Chinesische Mauer und verzweigter als der Amazonas.
Jeder – und das ist das wahrhaft Faszinierende – hat seine eigene Website Story. Das WWW ist hochgradig individualisiertes Gemeinschaftserlebnis. Es nötigt uns eine persönliche Reaktion, eine Stellungnahme, eine Verhaltensweise, eine Positionierung in der Work-Life-Balance ab: Sucht oder Zucht, Geplauder oder Geschäft, OnDemand oder OnPremise. Das Auto kann man boykottieren, den PC nicht benutzen – dem World Wide Web entgehen wir praktisch nicht mehr.