Wir schalten zurück ins Frühjahr 1985. In den Marketingabteilungen von rund 7000 Unternehmen laufen die Vorbereitungen für den Auftritt zur Hannover Messe Industrie auf Hochtouren. Im April werden dort wieder die Tore geöffnet, um Bagger, Kräne, Fließbänder und Fertigungsmaschinen zu zeigen. Auch Roboter – oder richtiger: Handhabungsautomaten – werden präsentiert. Und natürlich das „Centrum für Büro- und Informationstechnik“ mit 1300 Ausstellern, das wegen der nur schwer ab- und aufzubauenden Mainframes Ganzjahres-Dauergast in der Halle 1 am Nordeingang war.
Kurzer Exkurs: Auch wenn keine Messe war – nirgendwo auf der Welt gab es so viele „Mipse“ wie im Keller der Halle 1. „Mips“ (oder Milion Instructions per Second) war damals die Maßeinheit für Großrechnerleistungen, die heute längst durch „Gips“ und „Tips“ abgelöst sind. Aber wer zählt heute noch so? Exkurs Ende.
Doch bei 870 EDV-Unternehmen gab es keinerlei Vorbereitungen. Sie hatten von der Deutschen Messe AG eine Absage erhalten. Denn obwohl das CeBIT bereits auf zwei weitere Hallen ausgewichen war, fehlte der Platz für die Repräsentanten der digitalen Revolution. Die logische Konsequenz führte zur ersten alleinigen CeBIT – einen Monat vor der Industriemesse – im Jahr 1986.
Doch 1985 wurde noch heftig Ungemach über die Deutsche Messe AG ausgekübelt. Eine „Fehleinschätzung, die von der Geschichte bestätigt werden wird“, war die Loslösung des CeBIT für Roland Mecklinger, damals Vorstandsmitglied der SEL (Standard Elektrik Lorenz, wer erinnert sich?, heute Alcatel-Lucent). Auch der legendäre Heinz Nixdorf, der freilich die Erfolgsstory der unabhängigen CeBIT nie erleben sollte, weil er auf der ersten unabhängigen CeBIT einem Herzinfarkt erlag, grummelte vor 30 Jahren: „Wir wurden nicht gefragt!“
Inzwischen wurden Hunderttausende gefragt und haben „Ja“ gesagt zur unabhängigen CeBIT – in der nächsten Woche also zum 29sten Mal.
„Die CeBIT“ ist heute längst keine Messe der Informationswirtschaft und Telekommunikation. Sie ist ein gesellschaftspolitisches Ereignis. Sowas wie das Weltinformationswirtschaftsforum – nur nicht in Davos, sondern in Hannover. Mit Themen wie der „Shared Economy“, der „Datability“ oder der „Digitalen Fabrik“ und der „Digitalen Ökonomie“ hat die CeBIT einen gesellschafts-relevanten Charakter. Sie wird inzwischen ebenso im Feuilleton zitiert wie im Wirtschaftsteil einer Zeitung. Ihre Präsenz als politische Weltbühne wird bestätigt durch die Teilnahme von Angela Merkel, David Cameron oder, ach ja: Arnold Schwarzenegger.
So wie soziale Medien, autonomes Autofahren, RFID, Big Data die Wirtschaft beeinflussen, so verändern diese Themen auch unser gesellschaftliches Selbstverständnis. Und die CeBIT ist das Messe-Spiegelbild dieser Diskussion. Sie ist ein Vielfaches größer als die Consumer Electronics Show in Las Vegas und der Mobile World Congress in Barcelona.
Aber kann sie angesichts des Megatrends rund um Industrie 4.0 noch ohne die Industriemesse? Frisst die Revolution ihre Kinder? Oder ist es gar eine Konterrevolution, die das Thema Informationswirtschaft mit der industriellen Fertigungswelt (wieder)vereint? 1985 kündigte IBM an, der Industriemesse treu zu bleiben, weil die CeBIT ohne das industrielle Umfeld der Hannover Messe ihre Kundschaft verlieren könne. Später gehörte IBM zu den größten Ausstellern auf der CeBIT. Und heute hat das Unternehmen praktisch keinen Bezug mehr zur Industrie.
Das aber haben zahllose Startups, die sich mit ihren Produktideen sowohl auf der CeBIT als auch auf der Industriemesse wohl fühlen würden. Nächste Woche sind sie in einer proppenvollen Halle 11 zu besichtigen und werden im April ebenfalls in den Nischenpräsentationen der Industriemesse zu sehen sein. Viele globale Player der Fertigungsautomation, der Logistik oder der Datenanalyse sehen sich längst wieder hin und hergerissen zwischen den beiden weltweiten Leitmessen.
Die Deutsche Messe AG wird handeln müssen. Mit Industrie 4.0 hat sie ein Luxusproblem. Für eine Zusammenlegung gibt es aus Gründen des Zeitmanagements und der Platzverfügbarkeit keinen vernünftigen Grund. Aber – Überraschung, Überraschung – beide Messen rücken durch die Digitalisierung der Geschäftsprozesse wieder näher aneinander. Und gleichzeitig exportiert die Deutsche Messe äußerst erfolgreich ihr Messekonzept ins Ausland – zuletzt nach Indien. Global Conferences around the world and around industry 4.0 – die Deutsche Messe Hannover CeBIT Industrie 4.0 wäre ein deutscher Exportschlager.