„Wenn Siemens wüsste, was Siemens weiß…“ Der leicht ironische Stoßseufzer wird dem ehemaligen Vorstandsvorsitzenden Heinrich von Pierer zugeschrieben. Vermutlich nicht ganz zu Recht, denn er selbst hat vor 18 Jahren dieses Zitat benutzt, um die unselige Ära der Unwissenheit für beendet zu erklären. Damals errichtete Siemens sein konzernumspannendes Netzwerk für das Wissensmanagement. Seitdem sind in vielen Unternehmen Tools für die Verbreitung von „Corporate Wisdom“ in Betrieb genommen worden. Der Erfolg ist nicht unbedingt überwältigend, wie jetzt auch die dritte Deutsche Social Collaborative-Studie der Uni Darmstadt deutlich macht.
Danach ist der vom dortigen Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik entwickelte Reifegrad-Index für den Einsatz von Systemen für das Wissensmanagement und Enterprise Social Networks lediglich bei einem mauen Mittelwert angekommen. Auf einer Skala von 1 bis 7 erreichen die gut 500 befragten Mitarbeiter einen Nutzungsgrad von knapp 4. Sie greifen also zu einem Mix aus digitalen und analogen, persönlichen und vernetzten Productivitytools.
Dabei ist es durchaus interessant zu sehen, in welchen Branchen Werkzeuge für das Wissensmanagement besonders verbreitet sind. Unangefochten steht die Informationstechnik selbst auf dem Spitzenplatz mit einem Reifegrad von 4,89 von 7 – also um einen Skalenwert höher als der Durchschnitt. Ihr folgt der Bereich Pharma/Chemie mit seiner aufwändigen Suche nach neuen Wirkstoffen und der Bereich Kommunikation, was naheliegend genug ist. Geradezu grotesk aber ist es, dass ausgerechnet das Gesundheitswesen mit seinem enormen Bedarf an interdisziplinärer und therapieübergreifender Kommunikation den geringsten Reifegrad aufweist: 3,74 von 7. Der Schutz der Patientendaten scheint immer noch wichtiger zu sein als der Schutz der Patienten selbst…
Dabei schwankt der Einsatz von digitalen Technologien zur Wissensverarbeitung und –verbreitung je nach Einsatzszenario. Bei der Suche nach Experten und beim Austausch in Interessensgruppen werden moderne Tools am wenigsten eingesetzt. Hier scheint der klassische Headhunter ebenso zu überleben, wie die gute alte Email oder das Telefon. Der persönliche Austausch wird aber vor allem in Unternehmen mit großer geografischer Verteilung immer schwieriger. Hier sind Videokonferenzen, Chatgroups und Enterprise Social Networks das Mittel der Wahl.
Mehr Einsatz finden digitale Technologien beim firmenweiten Austausch von Informationen und Wissen und bei der Suche und Nutzung von Formularen und Anträgen. Tatsächlich sind diese beiden Nutzungsszenarien auch die mit der längsten Anlaufzeit. Siemens beispielsweise hat bereits im Jahr 2000 sein erstes unternehmensweites Wissensmanagement-Netzwerk errichtet. Seitdem sind mehrere Folgeversionen entstanden. Das Ziel, dass „Siemens weiß, was Siemens weiß“, dürfte aber noch genau so weit entfernt sein. Das liegt unter anderem daran, dass Wissen und das Management von Wissen ein Moving Target sind. Und nicht zuletzt ist der Mensch in seiner Aufnahmefähigkeit endlich.
Das lässt den Schluss zu, der allerdings in der Studie nicht getroffen wird, dass die heutigen digitalen Technologien zum Wissensmanagement durch die nächste Generation aus KI-gestützten Systemen abgelöst werden. Denn schon heute ist Cognitive Computing, Machine Learning und die Erkennung von Mustern die große Domäne der künstlichen Intelligenz. Diese Tugenden sind aber die Ingredienzen eines arrivierten Wissensmenüs, wie wir es in einer agilen, dynamischen und komplexen Zukunft benötigen.
Sicher ist dabei, dass niemand eine Insel ist, um das schöne Wort des englischen Mystikers John Donne aufzugreifen (was vor mir ja auch schon Johannes Mario Simmel tat). Die Zeit der Allrounder, der 360-Grad-Experten mit lexikalischem Wissen scheint vorbei. Eine ihrer wichtigsten Eigenschaften aber, nämlich die Fähigkeit zum vernetzten Denken, wird immer wertvoller. Während wir also das Wissensmanagement den Maschinen überlassen, ist die Intuition dem Menschen vorbehalten.