200316 Corona

Die perfekte Welle

Wir sind inzwischen eine Nation von Epidemiologen geworden. Jeder glaubt einschätzen zu können, wie wir die perfekte Infektionswelle reiten werden. Das Meinungsspektrum reicht von Anhängern der Herdenimmunität, die dafür plädieren, dass die gegenwärtigen Einschränkungen so schnell wie möglich aufgehoben oder zumindest gelockert werden, bis zu jenen, die vor einer nicht zu bewältigenden zweiten Welle warnen.

Dazwischen gibt es eine ganze Reihe von Spezialmeinungen – etwa die der Zyniker, die meinen, Patienten mit Vorerkrankungen würden ja ohnehin sterben; nur später und an etwas anderem. Unverdrossen demonstrieren auch die Verschwörungstheoretiker, die das Virus wahlweise für frei erfunden oder im Labor entwickelt und absichtlich freigesetzt halten. Dann melden sich diejenigen zu Wort, die eine florierende Wirtschaft gegen Fallzahlen aufrechnen. Und schließlich gibt es auch die Oberlehrer, die mit anklagendem Blick zurückweichen, wenn die Uneinsichtigen – also die vierte Gruppe – immer noch nicht in die Armbeuge husten oder eine Maske tragen. Zumindest das Tragen von Masken im öffentlichen Nahverkehr und in Geschäften ist seit diesem Montag in allen Bundesländern Pflicht – oder zumindest beinahe: Schleswig-Holstein hält das Föderalismus-Fähnchen hoch und führt die Maskenpflicht erst am Mittwoch ein.

Und jeder holt inzwischen einen Zeugen für seine Überzeugungen in den Zeugenstand: den Virologen Christian Drosten, den Präsidenten des Robert-Koch-Instituts Lothar Wieler, den Epidemiologen Alexander Kekulé, die Infektologin Marylyn Addo oder die vielen anderen Experten, die zur Zeit Tag für Tag in den Medien die immer wieder gleichen ungeduldigen (und zugleich dummen) Fragen beantworten müssen: wann gibt es einen Impfstoff, wann endet der Shutdown, wann führen wir wieder ein normales Leben?

Während diese Experten inzwischen einen höheren Bekanntheits- und Beliebtheitsgrad erreicht haben als so mancher Politiker, würde es beispielsweise den meisten Deutschen schwerfallen, die Namen der fünf Wirtschaftsweisen zu nennen. Auch die Mitglieder des Ethikrats sind den meisten unbekannt – und das, obwohl sie die Bundesregierung in nahezu allen Fragen des sozialen Miteinanders beraten. Auch die 55 deutschen Experten, die bei der Abfassung des jüngsten Berichts des Weltklimarats beteiligt waren, operieren weitgehend im Dunkeln, obwohl der Klimawandel für uns alle eine mindestens so brennende Frage bedeutet, wie die Corona-Pandemie. Und schließlich: Wer kennt schon die Mitglieder des Digitalrats, dessen Empfehlungen in den kommenden Jahren schwerwiegenden Einfluss auf unser Arbeitsleben, unsere informationelle Selbstbestimmung und die wirtschaftliche Prosperität unseres Standorts haben werden?

Warum haben wir eigentlich kein regelmäßiges ARD- oder ZDF-Spezial zum Klimawandel oder zur digitalen Transformation? Warum diskutieren wir eigentlich keine Einschränkungen mit dem Ziel, lebensbedrohendes Kohlendioxyd zu vermeiden? Warum diskutieren wir nicht unseren Umgang mit digitalen Medien? Weil wir uns längst für Experten halten! Selbst wer die Auswirkungen der Globalisierung auf den Klimawandel nicht versteht, glaubt trotzdem zu wissen, was gut und richtig ist. Wer keine Ahnung von Computern hat, verzichtet trotzdem nicht auf eine dezidierte Meinung.

Nach einer aktuellen Umfrage des Hightech-Verbands Bitkom hält keiner der befragten Geschäftsführer oder Vorstände die eigenen Kenntnisse in Sachen Digitalisierung für „mangelhaft“ oder gar „ungenügend“. Jeder Sechste aber schätzt seine Kompetenzen als „sehr gut“ ein. Insgesamt geben sich die deutschen Firmenlenker eine Durchschnittsnote von 2,3 – also ein „im Ganzen gut“. Hier scheinen Selbstbild und Fremdbild doch weit auseinanderzuklaffen. Denn wäre es so, würde Deutschland nicht unter „ferner liefen“ rangieren, wenn es um die Umsetzung neuer Technologietrends und die Runderneuerung unserer Wirtschaft geht.

„Die Corona-Krise hat uns gezeigt, welche Bedeutung digitale Technologien für unsere Wirtschaft haben. Unternehmen, die besser digitalisiert sind, haben gerade in Krisenzeiten einen klaren Wettbewerbsvorteil“, kommentiert Bitkom-Präsident Achim Berg. Das haben wir den Virologen und Epidemiologen zu verdanken, die zum „Shutdown“ und zum „social Distancing“ geraten haben. Wir reiten die perfekte Welle der Infektionen, weil uns die Digitalisierung erlaubt, unser soziales und wirtschaftliches Leben – wenn auch mit Einschränkungen – aufrechtzuerhalten.

Hoffen wir, dass nach Corona die Klimatologen und Digitalexperten ebenso viel Gehör finden. Sonst verpassen wir doch noch die perfekte Welle.

Einer dieser „stillen Experten“ feierte am Sonntag seinen 80. Geburtstag. Dietmar Hopp, der mit der Co-Gründung des größten europäischen Softwarehauses SAP und seinen Beteiligungen an Biotech-Firmen bereits jetzt größten Einfluss auf die digitale Transformation UND den Kampf gegen Corona hat. Zu den Experten seines Schlages können wir uns nur beglückwünschen. Wir sollten auf sie hören.

PS. Und natürlich beglückwünsche ich Sie, lieber Herr Hopp auch auf diesem Weg zu Ihrem 80. Geburtstag. Ich hoffe, wir dürfen noch viel von Ihnen hören.

 

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