Scan of a Brain Tumor --- Image by © Pete Saloutos/CORBIS

Virus im Kopf

Können Sie sich vorstellen, jemals wieder in ein nahezu vollbesetztes Sammeltaxi zu steigen? Würden Sie noch entspannt in einem überfüllten Shuttle-Bus zum Flugzeug stehen bleiben, wenn neben Ihnen jemand in die Armbeuge hustet? Wollen Sie noch einen Coworking-Space aufsuchen, wenn Sie genauso gut, aber unbelästigt von Dritten, zu Hause arbeiten könnten. Wollen Sie überhaupt noch eine Dreiviertelstunde in der Rushhour morgens und abends hinterm Lenkrad vergeuden, wenn es vom Frühstückstisch zum Heimarbeitsplatz nur wenige Schritte sind? Oder können Sie sich noch vorstellen, im nächsten Urlaub die Wohnung eines Unbekannten zu beziehen, dessen Hygienegewohnheiten Sie nicht kennen?

Wahrscheinlich hat sich in den letzten Wochen weniger unsere Einstellung zur Digitalisierung geändert, sondern vielmehr unsere Einstellung zur Umwelt und den Gefahren von Krankheitsübertragungen. Die viel belächelten maskenbewehrten Japaner und Chinesen sind plötzlich globale Trendsetter geworden. Wir verbergen zwar unsere individuelle Mimik hinter selbstgebastelten Masken, bringen aber gleichzeitig unsere Individualität durch lustige Muster auf dem Mundschutz zum Ausdruck.

Die Angst vor dem Virus im Kopf scheint größer zu sein als die Angst vor dem Virus im Smartphone. Deshalb werden wir am Ende des Shutdowns und des social Distancing nicht einfach unser gewohntes Leben wieder anlaufen lassen. Warum sollten dezentral operierende Unternehmen darauf beharren, ihre regelmäßigen Abstimmungs-Meetings wieder physisch in der Zentrale abzuhalten, wenn sich – nach anfänglichen Technikproblemen – Videokonferenzen als praktische Alternative erwiesen haben. Warum sollten Unternehmen ihre Investitionen in Collaboration-Lösungen wieder zurückfahren, wenn sich durch Mitarbeiter im Home Office teure Büromieten einsparen lassen?

In einem jetzt erschienen Interview auf LinkedIn sagt Microsoft-Gründer Bill Gates voraus, dass sich Business Trips nach dem Ende der Corona-Krise nicht im gleichen Ausmaß wieder einstellen werden. Und Potential gäbe es genug. Allein die deutschen Bundesbehörden haben im Jahr 2018 rund 230.000 Inlandsflüge gebucht. Die Zahl der privatwirtschaftlichen Inlandsflüge dürfte um ein Vielfaches höher sein. Was der Klimaschutz nicht schaffte, macht jetzt möglicherweise der Infektionsschutz möglich.

In der Tat: die virtuelle Welt schützt vor der viralen Welt. Beispiele für Technologien, die unsere Welt nach dem Exit vom Shutdown bestimmen könnten, gibt es genug:

Wollen Sie noch Geldscheine austauschen, von denen Sie nicht wissen, durch wie viele Hände sie bereits gegangen sind? Bezahlen mit Kreditkarten war in Deutschland lange Zeit ein Stiefkind, doch in Corona-Zeiten hat der Einzelhandel auf berührungslose Bezahlmethoden gesetzt, wie sie die neuen Kreditkarten bieten.

Haben Sie noch Lust, auf einem schmierigen, versifften öffentlichen Touchscreen herumzudrücken? Spracheingabe dürfte sich zum Kontaktmedium der Zukunft entwickeln – vor allem, wenn KI-gestützte Bots nicht nur die Syntax, sondern auch die Semantik eines gesprochenen Satzes immer besser verstehen.

Gibt es künftig ein Grundrecht auf Netzverfügbarkeit? Seit Jahren klagt die Wirtschaft den flächendeckenden Breitbandausbau ein. Jetzt könnte er im Rahmen des Wiederanlaufs der Wirtschaft als vielversprechendes Konjunkturprogramm neu aufgelegt werden, um auch dem ländlichen Raum mehr informationelle Selbstbestimmung zu ermöglichen.

Wollen Sie weiter „auf Sicht“ handeln oder behandelt werden? KI-Systeme haben schon früh die Möglichkeit einer Pandemie vorhergesagt. Mit Big Data wird derzeit die Suche nach einem Impfstoff gegen Corona beschleunigt. Gleichzeitig fehlen den Meteorologen 50.000 Wetterdaten täglich, die sonst von Linienflügen ermittelt werden. Und schließlich entstehen derzeit breit akzeptierte Apps, die das Tracking von Infizierten erleichtern soll. Big Data und künstliche Intelligenz haben in den letzten Wochen ihren Wert eindrucksvoll unter Beweis gestellt.

Sind Sie „systemrelevant“ oder einfach nur „gefährdet“? Wer nicht gerade einen Bildschirmarbeitsplatz hat oder als „systemrelevant“ eingestuft wurde, ging in Deutschland in die Kurzarbeit, in den USA in die Arbeitslosigkeit. Systemrelevant sind beispielsweise Pflegekräfte oder Logistikdienstleister, die dafür der Ansteckungsgefahr in besonderem Maße ausgeliefert sind. Pflegeroboter, die bei körperlich anstrengenden Arbeiten helfen, oder Lieferroboter, die die letzten Meter zum Kunden übernehmen, könnten diese Gefahr lindern. Und die Vorstellung von menschenleeren Fabrikhallen, in denen Roboter trotz des Shutdowns die Produktion lebenswichtiger Waren fortführen können, hat ebenfalls ihren Schrecken verloren.

Die Frage, wie wir in Zukunft leben wollen, können wir uns tausendfach stellen. Wenn wir den Virologen folgen, werden wir noch länger als ein Jahr das Virus im Kopf haben und deshalb auf virtuelle Welten ausweichen – selbst wenn der Shutdown beendet werden könnte. Ob wir künftig lieber keinen Sport miterleben wollen oder in der Videoübertragung aus menschenleeren Stadien, muss jeder ebenso für sich beantworten wie die Frage, ob wir das Ausharren in einem Praxiswartezimmer voller Krankheitskeime bevorzugen oder doch zur Televisite greifen wollen. Es wird Zeit, dass wir uns mit der Digitalisierung im Kopf anfreunden.

 

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