Die Nachricht gibt Anlass, grundsätzlich zu werden: IBM wird sich bis zum Ende des Jahres 2021 in zwei Gesellschaften aufteilen. Das wird interne Kosten von fünf Milliarden Dollar verursachen – eine Größenordnung, an der die meisten Organisationen auf dieser Welt schlicht zerschellen würden. Nicht aber IBM. „Too big to fail“, zu groß, um zu scheitern – irgendwie steht dieser Satz in weißblauen Streifen wie das IBM-Logo über mehr als einem Jahrhundert der Geschichte der Informationstechnik. Sie ist länger als die 109 Jahre, die geschichtsvergessene Kolumnisten jetzt ausrechnen. Die Geschichte reicht bis ins vorvergangene Jahrhundert zurück, als der Heilige Hollerith, der Schutzpatron aller Nullen und Einsen, in den Vereinigten Staaten eine Volkszählung auf Lochkarten durchführen ließ. Dabei traten schon – und das kann wohl nur würdigen, wer wie ich 75 Jahre dieser Geschichte leibhaftig miterlebt hat – genau die Tugenden zutage, die heute den Erfolg der neuen IBM bringen sollen: Big Data, Analytics, ein ganz kleines bisschen künstliche Intelligenz – und irgendwas mit Cloud.
Ich kann nicht anders: ich muss die Geschichte der IBM eng verknüpft mit meiner eigenen Geschichte als Software-Unternehmer sehen. Als Big Blue sich Anfang der achtziger Jahre entschied, sich aus dem Geschäft mit der Anwendungssoftware zurückzuziehen – eine der ganz großen Eseleien in der strategischen Ausrichtung dieses IT-Methusalems –, wurde mein Softwarehaus der europaweit erste Mittelstands-Partner der IBM. Vorher hatten schon andere – Dietmar Hopp, Hasso Plattner und weitere – als Anwendungsprogrammierer erkannt, dass die Ausbeutung ihres Erfindungsreichtums durch IBM weniger lukrativ ist als die Selbstausbeutung. So wurde SAP. Und so entstand der Multi-Milliarden-Markt der Softwareindustrie – einfach nur deshalb, weil IBM diesen Markt verlassen hatte.
Das gleiche passierte mit dem Personal Computer und seiner gigantischen Software-Umgebung bis hin zu lokalen Netzwerken, die nur deshalb den freien Marktkräften überlassen werden konnte, weil die Chef-Etage in Armonk, New York State, das Potenzial hinter dem Betriebssystem DOS nicht erkannte und auch diesen Markt aufgab. Damals war IBM so marktbeherrschend, dass sie eigene Namen für ansonsten generische Produkte durchsetzen konnte. Statt Disk oder Festplatte hieß es DASD – sprich: Däsdie – Dynamic Access Storage Device. Das klang nach High Performance und nach richtig wichtig. Was sollte da ein Personal Computer oder ein von einem Bill Gates zusammengeschustertes Billig-Betriebssystem, das ohne großen Wartungsvertrag mit jahrelanger Kundenknebelung – pardon: Kundenbindung – auf einem Satz von acht Zoll großen Floppy Disks ausgeliefert werden konnte. Da war doch keine Marge zu holen! Doch! – und zwar gerade weil IBM diesen Markt verlassen hatte.
Marge – das war gleichbedeutend mit Mainframes! Und Big Blue war der Godfather der Großrechner. Die Herren im blauen Anzug beschäftigten sogar eine eigene Organisation zur Desinformation, um die sogenannten Plug Compatible Manufacturer, die steckerkompatiblen Wettbewerber wie Amdahl, Fujitsu und – auch das ein Treppenwitz der Geschichte – deutsche Anbieter wie BASF, Siemens und Nixdorf über die weitere technische Entwicklung der /370-Architektur in die Irre zu führen: „We do not speculate about unannounced products“, lautete das Mainframe-Mantra. Aber Big Blue, der Erfinder der Timesharing-Rechenzentren, erkannte nicht die Zeichen der Zeit, als im Hintergrund des World Wide Web übergroße Service-Rechenzentren entstanden, deren Computing Power nicht auf Mainframes, sondern auf Abertausenden von PC-Chips beruhte. Zu diesem Zeitpunkt – und das ist ein weiterer „Armonk-Lauf“ des Unternehmens –verkaufte IBM seine PC-Sparte als Lenovo nach China. Ausgerechnet China! Von dort verkabelt jetzt Huawei die IT-Infrastruktur weltweit. Und damals? – wer gehörte damals zu den größten Server-Herstellern weltweit? Ein Nobody namens Google, der ausschließlich für den Eigenbedarf produzierte. Wieder entstanden Märkte alleine dadurch, dass IBM sie verließ.
Alles verdaddelt und verdellt. Irren bleibt menschlich – IBM.
Und doch: 77 Milliarden Dollar Umsatz machte dieses Unternehmen, das von IT-Fettnäpfchen zu IT-Fettnäpfchen torkelt, im vergangenen Jahr. Und vor zwei Jahren konnte Big Blue sogar für 34 Milliarden Dollar Big Red kaufen, den Unix-Spezialisten Red Hat. Einfach so. Aus der Portokasse! Doch es wurde nicht der große Befreiungsschlag, den die glücklose Ginny Rometty so dringend gebraucht hätte. Angesichts des geringen Impacts, den der Kauf auf die Firmenkultur bisher zu haben schien, galt die Übernahme als hemmungslos überteuert. Ein Verzweiflungskauf, mehr nicht.
Aber jetzt scheint sich der Rote Riese innerhalb von Big Blue durchzusetzen. Die alte Cash-Cow, das Mainframe-orientierte Service-Geschäft mit rund 19 Milliarden Dollar Umsatz wird in eine neue Gesellschaft ausgelagert. Doch der Rote Riese soll als Big Blue, also unter dem Namen IBM, weitermachen – mit Cloud Computing, künstlicher Intelligenz, Blockchain und Quantum-Computing. Das wäre schon jetzt dreimal so groß wie die Service-Gesellschaft – und könnte den Zugriff auf einen 1000 Milliarden Dollar großen Markt eröffnen.
„Spät kommt Ihr, doch Ihr kommt“, soll der Duke of Wellington zu Blücher gesagt haben, als der mit seiner Armee vor Waterloo erschien und den Sieg über einen übermächtigen Gegner ermöglichte. Ob IBM das auch gelingen wird, spät aufzuschlagen und dann aber gegen solche Cloud-Giganten wie Google, Amazon oder Microsoft zu obsiegen, darf bezweifelt werden. Aber IBM ist unkaputtbar. In Big Blue steckt jetzt ein Roter Riese. Am Ende sollte sich diese Übernahme doch auszahlen.
Dank für den sehr lesenswerten Bericht, den viele Leser teilweise persönlich miterlebt haben. Meine Man-Number vor vielen Jahren in Yorktown Heights war 346222 und später habe ich den Diebstahl der Software des HSM ungewollt aufgedeckt, weil die PTF’s von IBM später perfekt im HMI in die unter BS3000 verbreitete äquivalente Software passte. Unsere Innovationswelt ist klein.