201005 Breitband

Digitale Prokrasti-Nation

Die amerikanische Weltraumagentur NASA hat jetzt die Nokia Bell Labs damit beauftragt, den Mond mit dem Übertragungsstandard 4G zu vernetzen. Für 14 Millionen Dollar soll es möglich sein, Rover auf unserem Satelliten in Echtzeit zu steuern. Wenn das so weiter geht, liegt das Breitband-Brachland Bundesrepublik im wahrsten Sinne des Wortes „hinterm Mond“.
Was wie Kabarett klingt ist in Wirklichkeit eine Posse im Kabinett. Die Bundesregierung bekommt einfach keine stimmige, durchgängige und vor allem von Visionen getragene Digitalpolitik hin. Oder haben Sie in letzter Zeit etwas Richtungsweisendes von der Beauftragten der Bundesregierung, Dorothee Bär, gehört, vom mit Digitalisierungsthemen befassten Kanzleramtsminister Helge Braun oder dem für die digitale Infrastruktur zuständigen Verkehrsminister Andreas Scheuer? Hat der Bundesinnenminister Horst Seehofer eine Digitalisierungsstrategie der Bundesbehörden losgetreten? Hat die Kanzlerin Grundsätzliches zur digitalen Mittelmäßigkeit unseres Landes veröffentlicht? Am meisten hört man noch vom Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier, der zwar von KI bis Cloud Initiative für Initiative lostritt, diese dann aber aus den Augen zu verlieren scheint.
Man möchte sagen: Corona deckt alles andere zu. Aber tatsächlich deckt die Corona-Krise auch schonungslos die digitale Schwäche Deutschlands auf. Zwar bieten 60 Prozent der deutschen Unternehmen ihren Mitarbeitern in Corona-Zeiten die Möglichkeit an, im Homeoffice zu arbeiten, aber nur 27 Prozent der Deutschen erfreuen sich eines unterbrechungsfreien, performanten Internetanschlusses. Das ergab eine von der FDP-Bundestagsfraktion in Auftrag gegebene repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa. Und schon vorher haben Technologiestudien aufgezeigt, dass in der Regel die Deutschen nicht die Bandbreite bekommen, die sie vertraglich mit ihrem Provider vereinbart haben. Der Breitbandatlas des Bundesverkehrsministeriums weist für 100 Mbit pro Sekunde nur gut 50 Prozent der privaten Haushalte im Westen Deutschlands aus – im Osten sind es mit ein paar Ausnahmen weniger als 50 Prozent.
Zugegeben: der Durchbruch im digitalen Deutschland wird nicht im Homeoffice entschieden, sondern eher in den Produktionsstätten, den Lieferketten oder in den digitalen Produkten und Plattformen, die die Wirtschaft bereitstellt. Aber auch hier offenbart die Corona-Krise das digitale Dilemma: ihre Digitalstrategien sind – wenn sie ernsthaft verfolgt werden und nicht aus Larifari-Projekten mit einem eShop hier und einer Skype-Konferenz dort bestehen – sowohl datenintensiv als auch realtime. Das verlangt Bandbreiten im Gigabit-Bereich – und dort sind es gerade einmal die Großstädte Berlin, München, Hamburg und – huch! – Bremen, die eine gewisse Versorgung aufweisen. Dort, wo der Mittelstand zu Hause ist, herrscht Breitband-Brachland. Man kann es mittelständischen Unternehmern nicht verübeln, wenn sie ihre Geschicke nicht an eine Infrastruktur hängen wollen, die immer dann in die Knie geht, wenn man sie am dringendsten braucht.
Doch eine Internet-Leitung hilft nichts, wenn die Intelligenz-Leistung sie nicht mit digitalem Mehrwert füllt. Da sehen die Bundesbürger laut Forsa-Befragung erhebliche Defizite im Bundeskabinett: So verneinten 84 Prozent die Frage, ob die Politik die Bevölkerung ausreichend auf das digitale Zeitalter und die damit verbundenen Folgen vorbereite. Und fast ebenso viele – 82 Prozent – fanden, dass die Corona-Krise diese Defizite deutlich herausstelle. Das zeigt sich an der schlechten Ausstattung der Schulen, die vier von fünf Befragten für nicht ausreichend halten. Das zeigt sich aber auch in der mangelhaften Bereitstellung von Bürger-Portalen für digitale Behördengänge, die entweder nicht vorhanden oder aber unübersichtlich und schwer verständlich sind.
So konsequent die Bundesregierung in der Corona-Krise zu handeln versteht, so inkonsequent ist sie in der Digital-Krise, auf die Deutschland ungebremst zusteuert. Zur Rettung der Unternehmen wurde fast ausschließlich auf arbeitsmarktpolitische Werkzeuge zurückgegriffen. Auf einen Digitalpakt gegen Corona, der kritische Branchen wie das Gesundheitswesen zusätzlich befähigen könnte, wurde abgesehen von ein bisschen Telemedizin verzichtet. Dafür bezahlt der Steuerzahler mittels Kurzarbeitergeld auch diejenigen Mitarbeiter, die zum Beispiel in der Automobilindustrie ohnehin von einem digitalen und elektromobilen Strukturwandel betroffen wären. Es werden also auch Firmen dafür belohnt, dass sie den digitalen Wandel erfolgreich aussitzen.
Diese Aufschieberitis ist vielleicht gefährlicher als das Corona-Virus. Wir sind ein Land von digitalen Aussitzern geworden – eine Prokrasti-Nation.

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