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Alles bleibt anders

Dass sich unser Leben in der Corona-Pandemie geändert hat, ist inzwischen geradezu ein Gemeinplatz. Und dass wir nach den Lockdowns und Freiheitseinschränkungen künftig nicht wieder zu einem Status ex ante zurückkehren werden, gilt ebenfalls als ausgemacht. Aber wie unsere Zukunft aussehen wird, darüber gehen die Meinungen extrem weit auseinander. Die einen sehen in der Digitalisierung praktisch aller Geschäftsprozesse in Industrie und öffentlicher Hand, im Gesundheitswesen oder im Bildungssektor den Segen, die anderen befürchten gerade darin den Gottseibeiuns.

Dabei machen uns kurzfristige Studien auch nicht schlauer: eine – wenn auch knappe – Mehrheit der EU-Einwohner spricht sich dafür aus, Parlamentarier durch KI-Algorithmen zu ersetzen. Das jedenfalls hat das „IE Center for the Governance of Change“ in der repräsentativen Studie European Tech Insights ermittelt. Danach würden 51 Prozent der Befragten die Zahl der nationalen Parlamentarier reduzieren und die freiwerdenden Plätze durch Algorithmen ersetzen. Je jünger die Befragten, desto begeisterter sind sie von dieser Idee. Bei den 25- bis 34-Jährigen waren es schon über 60 Prozent. Und nach dieser Studie würden sich die Jüngeren auch mehrheitlich bei Gesundheitsfragen auf die Ergebnisse von maschinellem Lernen verlassen.

Aber während auch die Wissenschaftler immer mehr auf KI-Systeme setzen wollen, um neue Behandlungsmethoden zu optimieren, und das „Nationale Forschungsnetzwerk der Universitätsmedizin zu Covid-19“ auf die Bereitschaft der Patienten setzt, künftig anonymisierte Daten über ihren Gesundheitszustand herzugeben, macht sich nach einer Befragung von YouGov die Mehrheit der Deutschen Sorgen, dass Algorithmen sie bevormunden, falsche Entscheidungen treffen und das persönliche Gespräch zurückdrängen. Aber auch hier gilt: je jünger die Befragten, desto positiver stehen sie dem Einsatz von KI gegenüber. Während bei den 18- bis 24-Jährigen noch 51 Prozent der Befragten der Entwicklung hin zu mehr Künstlicher Intelligenz etwas Positives abgewinnen können, sind es bei den über 55-Jährigen nur 38 Prozent.

Geht also – wie bei der Klimadebatte auch – ein Graben zwischen Alt und Jung durch die Bevölkerung? Wird das Alter der Entscheider und der Kunden darüber entscheiden, wie und wie schnell sich eine Branche verändert? Nach einer Analyse der Unternehmensberatung McKinsey über die zurückliegenden 18 Monate zeigt sich tatsächlich, dass sich die Branchen tatsächlich schon heute mit unterschiedlichem Tempo wandeln.

Am deutlichsten wird das im Einzelhandel: denn während Lebensmittel und andere Produkte des täglichen Bedarfs die gesamte Pandemie hindurch im Ladenlokal verkauft werden durften und deshalb nur vereinzelt andere Verkaufsformen genutzt wurden, sind für alle anderen Konsumerprodukte die Online-Bestellungen hochgeschnellt. Das gilt für alle Käuferschichten. Doch während für ältere Kunden der Besuch im Lebensmittelgeschäft noch zu den Höhepunkten des tristen Corona-Alltags gehörten, haben die jüngeren Käuferschichten auch bei Lebensmitteln die Lieferdienste entdeckt. Diese zwei Geschwindigkeiten wirken sich auch auf die Logistik aus. Denn während für die Non-Food-Produkte völlig neue Logistikkonzepte für automatisiertes Lagermanagement benötigt wurden, blieb in der Lebensmittellogistik zunächst alles beim Alten – bis auch hier die Lieferdienste für Kombiboxen und Fertiggerichte ins Rollen kamen.

Auch die Automobilindustrie ist ja nicht nur durch den Strukturwandel hin zur Elektromobilität geprägt, sondern – mehr noch – von der Tatsache, dass Autos von jungen Leuten nicht mehr so sehr als Statussymbol gesehen werden. Deshalb brachen die Verkäufe gerade bei jungen Käuferschichten stärker ein als bei den älteren, als es wegen der Mobilitätseinschränkungen während der Corona-Pandemie sowieso keinen triftigen Grund für die Anschaffung eines fahrbaren Untersatzes mehr gab. Und gleichzeitig sind die Jüngeren besser mit Eigenschaften wie Vernetzung und Umweltverträglichkeit zu ködern, als durch klassische Verbrenner-Argumente wie Fahreigenschaften.

Alles bleibt anders – nur wahrscheinlich anders als erwartet. Wie unsicher Prognosen in Zeiten der Corona-Krise sind, beweist ein Blick auf die Halbleiterindustrie, die mit den Chips quasi einen der Rohstoffe der Digitalisierung liefert. Denn während die Forecasts beispielsweise in der Automobilindustrie einen zusätzlichen Bedarf an Prozessoren von sechs Prozent vorhersahen, wurden es tatsächlich zehn Prozent weniger. Umgekehrt sollte der Anteil der Chipherstellung für Personal Computer nach den Vorhersagen stagnieren, weil immer mehr junge Leute zu Tablets und anderen mobilen Geräten wechseln. In Wirklichkeit nahm aber die Nachfrage nach den Chips um elf Prozent zu, weil immer mehr junge Menschen dann doch für das Home Office einen PC benötigten.

Der durch die Generationen getriebene Wandel beschleunigt sich in der Pandemie und in den Zeiten danach. Aber wohin die Reise geht, ist schwer einzuschätzen. Grundsätzlich gilt wohl:

  • Mieten, Tauschen und Teilen sind das neue Kaufen. Die Bedeutung, Produkte zu besitzen, tritt gegenüber ihrer Nutzung zurück.
  • Produkte werden zu Trägern von Dienstleistungen, die die eigentlichen Differenzierungspotentiale und damit die Wertschöpfung liefern.
  • Massenproduktion und Personalisierung schließen sich nicht mehr aus, wenn die Individualisierung über Services aus dem Netz gestaltet wird.
  • Diese Services werden immer stärker durch KI-Komponenten wie maschinelles Lernen bestimmt. Die KI-sierung der Wirtschaft erfolgt also unbemerkt und schleichend über Produkteigenschaften.
  • Immer mehr führen Transportunternehmen diese letzten Bearbeitungsschritte zur Personalisierung vor oder sogar während der Lieferung durch.
  • Digitaler Handel bleibt gleichwertig neben dem stationären Handel bestehen. Einkäufe werden zu „Event-Shopping“, während der tägliche Bedarf über Lieferdienste erfolgt.
  • Nachhaltigkeit und Klimaneutralität werden zu alles überlagernden Verkaufsargumenten.
  • Die klassische Wertschöpfungskette aus Produzieren, Handeln, Nutzen und Entsorgen wird zu Recyclingprozessen geschlossen.

Daraus ergeben sich völlig neue Geschäftsmodelle und Nutzungsversprechen, die vor allem das Kaufverhalten der jüngeren Generation verändern wird. Sie wird der wahre Treiber der post-coronalen Digitalisierung. Zu „Fridays for Future“ gesellt sich dann „Dienstags für Digitalisierung“. Wie gesagt: alles bleibt anders.

 

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