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SAPperlot!

Es hat schon viele Würdigungen für SAP zum 50. Geburtstag – offiziell am 1. April, faktisch wohl aber einiges früher – gegeben. Warum also jetzt noch eine? Weil sich offensichtlich kaum einer der Gratulanten so richtig an die Zeit vor einem halben Jahrhundert erinnert – teils, weil die Laudatoren selbst diese Zeit nicht erlebt haben, teils aber auch, weil die IT-Branche eine schrecklich geschichtsvergessene Gesellschaft ist. Hier deshalb die notwendige SAP-Würdigung von einem, der (fast) von Anfang an dabei war – und unter der SAP genauso gelitten hat, wie er sie bewundern musste. Aber – diese Pointe sei schon einmal vorweggenommen – die Bewunderung ist längst in Frustration wegen so vieler verdaddelter Chancen umgeschlagen. Aber – und das ist wieder irgendwie versöhnlich – in diesem Sinne ist SAP ein Spiegelbild der Deutschen. Oder ist das jetzt nicht sogar noch frustrierender?

Rücksturz ins Jahr 1972: Ostverträge und Grundlagenvertrag zwischen der BRD und der DDR; die Olympischen Spiele in München und der schreckliche Anschlag auf die israelischen Athleten; Wiederwahl für Willy Brandt und Richard Nixon; das Wahlalter in Deutschland wird von 21 auf 18 Jahre gesenkt und in Cape Canaveral startet mit Apollo 17 zum letzten Mal eine bemannte Mission Richtung Mond. – Oder erklärt man das Jahr 1972 besser über das, was es damals nicht oder nicht für jeden gab: Computer oder auch nur Zeit am Computer, Computerprogramme, kabelloses oder mobiles Telefonieren, Datenbanksysteme, Laptops,, Tablets, Smartphones, Internet, World Wide Web, eCommerce oder gar die Cloud. Obwohl die Cloud gab es in gewisser Weise schon, weil Anwender, die Zugriff auf einen Computer haben wollten, sich ein Zeitfenster bei einem Service-Rechenzentrum buchen mussten.  Time Sharing nannte man das damals.

In dieser Zeit machten sich die Gründer Dietmar Hopp, Hasso Plattner, Claus Wellenreuther, Klaus Tschira und Hans-Werner Hector daran, ein eigenes Computerprogramm für die deutsche Niederlassung von Imperial Chemical Industries (ICI) zu entwickeln. Ein Kunde wie ICI war wichtig, weil es ohne das Rechenzentrum des Kunden keinen Computer für die Software-Entwicklung gab. Man saß an Computerausdrucken auf Endlospapier, korrigierte die Programmierfehler, aktivierte das Ganze noch einmal – Debuggen war eine Arbeit für Menschen, die bereit sind, sich einer Sache voll und ganz zu verschreiben.

Aber – und dieser Teil der Geschichte wird gerne unterschlagen – verschrieben hatten sich die fünf Gründer zunächst dem Nonplusultra der Informationstechnik, die damals noch ADV oder Angewandte Datenverarbeitung hieß, nämlich der Internationalen Büromaschinen GmbH, dem deutschen Ableger der US-Amerikanischen IBM. Die hatte soeben im Antitrust-Verfahren der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft verloren und musste die Preise, die sie für Rechnerzeit und Programmierstunden in Rechnung stellte, offenlegen. Als die fünf IBM-Programmierer die Zahlen sahen, wussten sie, dass sie künftig die Ausbeutung durch IBM lieber mit der Selbstausbeutung ihrer intellektuellen Leistung ersetzen wollten. So wurde die „SystemAnalyse Programme“ gegründet. Ihr innovativer und sogar in gewisser Weise disruptiver Ansatz bestand darin, Individualprogrammierung nach und nach in Standardprogramme weiterzuentwickeln. Die Idee des Standardvertriebs anstelle des „Body-Leasings“ war geboren.

Nur wenige Unternehmer haben damals diesen Schritt gewagt, auf der Basis von gemieteten Großrechnern der IBM /370-Architektur eine Computerprogrammierung zu beginnen, die in Standards münden sollte. Die schon zehn Jahre früher, also 1962, in Wilhelmshaven gegründete ADV/Orga war in den Siebzigern zwar größer als die SAP, wuchs aber mit Spezialaufträgen für die Marine. Der Nachteil: Keine Standards, keine Skaleneffekte. Anders die SAP: Ihre Lösungen vertickten die Gründer bei praktisch allen DAX-Unternehmen.

Nicht jedoch im Mittelstand, der sich Rechnerzeit auf einem Großrechner der IBM /370-Architektur gar nicht leisten konnte, geschweige denn einen eigenen Mainframe in den Keller stellen konnte. Das änderte sich erst, als IBM mit den Strich-Drei-Systemen Hardware für kleine und mittlere Unternehmen die Chance auf eigene „EDV“, wie das inzwischen hieß, eröffnete. Damit explodierte die Software-Szene, weil viele Unternehmer, darunter zahlreiche Ex-IBMer, die Chance für Standardsoftware im Mittelstand erkannten. Ihr Geheimnis: Sie setzten die Branchen-Spezialitäten minutiös um und erwarben sich so eine Nische.

So trat ich 1980 mit Lösungen für die pharmazeutische Industrie in die Software-Szene ein – und traf immer wieder auf die exzellente Finanzsoftware der SAP. Es wäre ein smarter Move gewesen, damals die beiden Lösungen – Finanz hier, Branchenkompetenz dort – miteinander zu verbinden. Doch SAP beanspruchte den ganzen Kuchen. So wurden wir Wettbewerber.

Doch die Branchenkompetenz in zahllosen mittelständischen Einzelbranchen ist nicht so einfach abzubilden. Als die IBM mit dem Midrangesystem AS/400 überraschend breiten Erfolg hatte, musste etwas geschehen. SAP bot den inzwischen Hunderten branchenorientierten Softwareunternehmern einen Deal an: die Selbstentleibung. Wer seine eigene Lösung zugunsten des künftigen Supports von SAP im Mittelstand vernachlässigte, würde alle Segnungen des größten deutschen Softwarehauses genießen: Internationalität, Marketing, Vertrieb und – den Nachbau der eigenen Lösungen. So wurde SAP zur Weltmacht, während sich in der deutschen Software-Szene ein Exodus ereignete. Im Midrange-Sektor entstand deshalb nie ein deutscher Anbieter mit Weltbedeutung.

Doch inzwischen gab es Personal Computer und damit wieder eine völlig neue Infrastruktur. Und wieder schaffte es die SAP, die eigene Großrechner-Architektur in die neue Welt zu verlagern. Das wiederholte sich bis in die Neuzeit noch einige Male: Internet, Workplaces, mobile Devices, flexible Geschäftsprozesse – die Liste ist endlos und die Zahl der Adaptionen durch SAP auch. Doch als die Cloud am Horizont auftauchte, musste irgendwas mit dem Erneuerungswillen innerhalb der SAP passiert sein, das den nötigen Erneuerungswillen in Walldorf gebrochen hat. Seitdem läuft SAP dem Weltgeschehen hinterher, statt ihm voranzugehen. Aber auch hier gilt: Es entstand nie ein neuer deutscher Anbieter mit Weltgeltung.

Dabei hätte alles ganz anders laufen können. Mit Business by Design bot SAP plötzlich eine völlig neue Architektur an, die zudem Cloud-geboren war und für kleine und mittlere Unternehmen ebenso attraktiv gewesen wäre, wie für globale Konzerne. Doch die modernste aller SAP-Architekturen erhielt nie die funktionalen Weihen der großen Standardprogramme von R/3, All-in-One, SAP ERP oder dem heutigen S/4 Hana. Ich selbst habe damals den letzten Versuch unternommen, Business by Design mit den Branchenfunktionen aus meinem Haus zu verknüpfen und musste feststellen, dass die Beharrungskräfte in der SAP stärker schienen als die Innovationspotenziale. Das war der Moment, wo die SAP aus meiner Sicht den Wettlauf in die Cloud verloren hat. Seitdem ist sie – auch wegen der milliardenschweren Investitionen in eine weltweite Infrastruktur an Data Centern – ins Hintertreffen geraten.

Der Wechsel in die Cloud ist weniger eine technische als vielmehr eine vertriebstechnische und damit bilanzielle Herausforderung. Denn wenn sich Umsätze vom Verkaufen ins Vermieten verlagern, dann sinken die Einnahmen zunächst, ehe sie exponentiell anwachsen. Mittelständische Softwareanbieter können dieses dreijährige „Tal der Tränen“ angesichts der dünnen Finanzdecke kaum überstehen. Startups, die von Anfang an auf dieses Modell setzten, aber schon. Deshalb sitzt SalesForces als Pionier der cloud-basierten Unternehmenslösung allen etablierten Anbietern im Nacken. Microsoft hatte mit Dynamics 365 eine Antwort bereit. Andere aber lange nicht.

Aber SalesForce brachte noch eine weitere Innovation, wenn nicht Disruption: Fehlende Funktionen, vor allem wenn sie branchenspezifisch waren, ließ die Company einfach von der User Community entwickeln. Das war in Walldorf undenkbar, wo die alte Software-Architektur gehütet wurde wie der Schatz der Nibelungen. Und dieses Beharrungsvermögen zieht sich bis heute fort.

Mir geht es nicht darum, Aktienkurse, Quartalsumsätze oder Gewinneinbrüche angesichts der Russland-Sanktionen oder Lieferketten-Probleme zu kommentieren. Mir geht es darum, deutlich zu machen, wie das einzige deutsche Softwarehaus von Weltruhm diese Position aufs Spiel zu setzen beginnt, weil es zu lange auf sich, auf seine Vergangenheit und damit auf seine Beharrungskräfte schaut, statt auf sein Innovationspotenzial. Es ist so, wie die Anwendergemeinde inzwischen unkt, dass SAP sich zum 50. Geburtstag selbst das größte Geschenk macht und sich organisatorisch und technisch völlig erneuert. Anregungen von NewUps und Startups gibt es genug.

Am Ende bleibt aber doch ein „Sapperlot“ als Ausruf der Anerkennung, das allerdings der Vergangenheit gewidmet ist. Ich fürchte aber, dass die Nachrichten über „SAP in Not“ doch künftig häufiger die Schlagzeilen prägen werden, wenn wir in Deutschland technisch und wirtschaftlich nicht die überfällige „Zeitenwende“ einläuten. SAP kann dazu beitragen – oder getragen werden.

Unabhängig davon entbiete ich den Gründern meinen Respekt – auch dafür, was sie inzwischen durch ihre Stiftungen an notwendigem Innovationspotential gefördert haben.

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