Der Kern der digitalen Transformation ist weich. Weich wie Software. Algorithmen, Anwendungen und Apps treiben die Geschäftsmodelle der Zukunft – egal, ob es sich dabei um das vernetzte, autonome Fahrzeug handelt, um das Multifunktionsküchengerät mit eigenen Rezepturprogrammen aus dem Web oder um Dienstleistungen, die durch intensive Kundenkommunikation, remote Services und individualisierte Angebote ein einzigartiges Kundenerlebnis bieten. Und Software eröffnet auch neue Chancen angesichts der drückenden Energie-, Rohstoff- und Lieferkettenkrisen: Denn wer mit Hilfe von digitalen Lösungen flexibler auf neue Rohstoffquellen und Lieferketten zurückgreifen kann, wer mit Hilfe von smarten Steuerungsmechanismen seinen Verbrauch optimiert und zugleich durch agile Einkaufsoptionen günstig zukauft, hat am Ende die Nase vorn.
Das Dumme ist nur, dass es diese Algorithmen, Anwendungen und Apps in der Regel noch gar nicht gibt. Das ist schlecht für Anwenderunternehmen, die erst ihre Digitalstrategien festzurren müssen, ehe sie überhaupt definieren können, welche Anforderungen ihre „Next-Generation-Software“ erfüllen soll. Aber es ist gut für die IT-Branche, die sich in den kommenden Jahren einem deutlich wachsenden Software-Markt gegenübersieht. Die Treibmittel der digitalen Transformation müssen erst noch programmiert werden.
Das wird der Lackmus-Test für den deutschen Mittelstand. Denn je schneller es jedem einzelnen Unternehmen gelingt, die Anforderungen für die Anwendungen der digitalen Transformation zu definieren, desto früher entstehen die Algorithmen, die es in die „digital Economy“ katapultieren, in dem mit krisenhaften Herausforderungen virtuoser jongliert werden kann und gleichzeitig neue Wachstumspotenziale gehoben werden. Gelingt dies nicht, droht das Schicksal der „Steampunks“, die von der Dampfmaschine nicht lassen wollten, als längst eine elektrische Infrastruktur entstand. Es herrscht also Nachholbedarf.
Kein Wunder, dass Forrester Research in einer Vorhersage für die kommenden Jahre zu glänzenden Wachstumsraten für die Software-Industrie kommt. Demnach wird der Weltmarkt für Anwendungssoftware in diesem und im kommenden Jahr mehr als 400 Milliarden Dollar erreichen, wobei vor allem Lösungen für das Kundenbeziehungsmanagement gefragt sind und als Einzelmarkt 64 Milliarden Dollar erreichen sollen. Ähnlich stark zulegen soll Collaboration-Software wie Teams, Zoom und Slack, die vor allem das Homeoffice und virtuelle Meetings unterstützen. Und wie immer sind ERP-Anwendungen aus Forrester-Sicht mit einem mehr als zehnprozentigen Wachstum bei den Gewinnern. Kein Wunder – denn hier wird die Vergangenheit in die Gegenwart geholt, oder OnPremises in die Cloud verlagert.
Software ist das neue Gas – und Anwenderunternehmen begeben sich sehenden Auges in die Abhängigkeit ihrer großen Lösungs- und Infrastrukturlieferanten. Stockt die Pipeline an Software-Innovationen, dann stockt auch die digitale Transformation. Und dieses Szenario ist angesichts des massiven Entwicklermangels zu befürchten. Forrester sieht allerdings durchaus Chancen in diesem Nachfragemarkt. Die Preise für Lizenzen, Wartung und Cloud-Services werden drastisch steigen, lautet die Prognose.
Aber: Was Forrester übersehen hat, ist die Tatsache, dass immer mehr Anwenderunternehmen ihre dringend benötigten Algorithmen selbst entwickeln – auch, weil sie die nötige Expertise bei den Software-Anbietern nicht vorfinden. Denn beide leiden gleichermaßen unter dem drückenden Fachkräftemangel bei Entwicklern, IT-Administratoren und IoT- oder KI-Spezialisten. Sie qualifizieren deshalb ihre Fachexperten zu „Quasi-Entwicklern“ um, die mithilfe von DevOps, großen App-Bibliotheken und Entwicklungsumgebungen, die durch Drag and Drop bestehende Funktionsbausteine integrieren, die dringend benötigten Anwendungen selbst generieren. Diese Low-Code- / No-Code-Entwicklungsumgebungen sind nach der Einschätzung der Gartner Group das „nächste große Ding“, das vor allem den Flaschenhals der Entwicklerkapazitäten bei Software-Anbietern wie –Anwendern weiten könnte.
Danach wäre allerdings immer noch Software das neue Gas. Denn wer es fertig bringt, den Anwendern diese Low-Code- / No-Code-Entwicklungsumgebungen zu liefern und mit Bausteinen für künstliche Intelligenz, das Internet der Dinge oder für eCommerce- und CRM-Anwendungen anzureichern, wird das neue Nordstream der Software-Lieferungen errichten. Da können wir nur hoffen, dass dann die Abhängigkeit von US-Unternehmen größer sein wird als die von chinesischen Anbietern. Das wäre dann der nächste Knebel-Hebel.