Kommen mittelständische Entscheider eigentlich noch zum Arbeiten, angesichts der zahllosen, überwiegend als repräsentativ eingestuften Studien über den deutschen Mittelstand? Denn irgendjemand muss ja die Fragebögen schließlich beantworten, wenn nicht mittelständische Entscheider. Man könnte sich allmählich fragen, was alles mit der Zeit und dem Geld, die dabei verplempert werden, für den Mittelstand ausgerichtet werden könnte. Die Erkenntnis jedenfalls, das Geschäftsklima sinke gegenüber dem Vormonat, steige aber gegenüber dem Vorjahresmonat, ist eher etwas für Volkswirte im Designer-Outfit als für Mittelständler im Blaumann.
Denn die Erkenntnisse werden nicht nur immer weiter marginalisiert – wie zum Beispiel in der Beobachtung, dass nur noch rund ein Drittel der Befragten über Lieferkettenprobleme klagt. Sie wiederholen auch gebetsmühlenartig die immer gleichen Herausforderungen, vor denen der Mittelstand steht: Inflation, Energiekosten, Lieferketten, Fachkräftemangel, Bürokratie und geringe Liquidität. Letzteres, weil die Banken immer noch mittelständische Unternehmen als Hochrisikozone betrachten und – wie die KfW jetzt (natürlich gestützt durch eine Mittelstandsbefragung) ermittelte – die Kredithürden weiter anheben.
Nur: die meisten dieser Herausforderungen, denen immer nachgesagt wird, sie seien durch die Corona-Pandemie und den Ukrainekrieg entstanden, sind so in Studien aus den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts und aus den Nuller Jahren des aktuellen Jahrtausends nahezu wortgleich nachzulesen. Hunderte, wenn nicht Tausende von Mittelstandsstudien erbringen keine neuen substanziellen Erkenntnisse außer denen, die Vergleichswerte aus Vorgängerstudien heranzuziehen und damit einem marginalen Trend heraufzubeschwören.
Denn der „toxische Cocktail“, wie BDI-Präsident Siegfried Russwurm bezogen auf die Lage in der Industrie ihn zusammenmixte, brodelt im Mittelstand schon seit Jahrzehnten: lähmende Bürokratie, geringe Qualifikation, fehlende Liquidität, hohe Kosten, drückende Steuerlast, mangelhafte Infrastruktur, sinkende Margen, fehlende Innovationen. Das beschreibt den Wirtschaftsstandort Deutschland prägnanter und pointierter, als es alle Mittelstandsstudien vermögen. Und was noch schlimmer ist: Niemand handelt! Egal, ob in der Politik, in der Wirtschaft oder in den Verbänden – man begnügt sich damit, das Bild vom leidenden, wenn nicht sogar notleidenden Mittelstand zu skizzieren und geht seiner Wege.
Ja, schlimmer noch: Wir leisten uns eine selbsternannte „Zukunftsregierung“, in der der Bundesfinanzminister dem Bundeswirtschaftsminister – oder auch umgekehrt – nicht das Schwarze unterm Fingernagel gönnt, und sich deshalb permanent mit Hilfe von Durchstechereien, Sparvorgaben, Minderheitsvoten und sonstigen Kabinettsstückchen ausbremsen. Wie hätten Ludwig Erhard und Karl Schiller reagiert? Der letztere hatte zeitweilig beide Ämter inne – und irgendwie sehnt man sich nach dieser Zeit zurück.
Aber die Politik ist in ihrer Untätigkeit auch nur das Spiegelbild der Wirtschaftsunternehmen: Elektromobilität, Solarwende, Telekom- und Bahn-Infrastruktur, Flughafenbau, Stuttgart21, Digitalisierung – alles zieht sich, als wären wir alle ein einziges Bundeswehrbeschaffungsamt mit auf Jahrzehnten ausgelegten Planungs- und Umsetzungshorizonten. Es gab vor der großen Banken- und Finanzkrise 2008 schon einmal das böse Wort von den Deutschen als „kranker Mann Europas“. Die Versäumnisse seither holen uns nun wieder ein.
Wir lassen uns immer weiter im internationalen Verglich durchwinken – egal, um welche Disziplin es sich dabei handelt. Und wir setzen auch mit Langzeitwirkung die Axt an unseren Nachwuchs, in dem wir ihm erlauben, mit Schreib- und Leseschwäche, mangelhaften Rechenkünsten und geringfügiger Fähigkeit zum vernetzten Denken eine Schullaufbahn zu absolvieren, in der nicht nur die Leistungen immer schwächer werden, sondern auch die Anforderungen.
Das ist der wahre toxische Cocktail, unter dem die deutsche Volkswirtschaft im Allgemeinen und der Mittelstand im Besonderen leiden.