…außer man tut es

Man kann täglich eine neue Studie zitieren – und dieser Blog tut das manchmal auch – zu der Frage, wie weit der deutsche Mittelstand mit der vierten industriellen Revolution mitmarschiert. Die Schätzungen gehen von weniger als einem Drittel der deutschen Unternehmer bis zu nahezu 100 Prozent aus. Der Grund für die weit auseinander klaffenden Analysen darüber, wie die deutsche Wirtschaft mit der digitalen Transformation Schritt zu halten versucht, liegt in der oftmals unzureichenden Methodik: Weder sind einerseits die Befragten stets wirklich repräsentativ für die deutsche Wirtschaft, noch ist immer zweifelsfrei geklärt, ab wann ein Projekt nun wirklich ein Schritt in die Digitalisierung ist. Die Eröffnung einer Firmenseite auf Facebook ist es nämlich nicht, die systematische Erfassung und Analyse von Kundenbewertungen aber schon.

Ohnehin ist es Zeit, aus dem Modus der Prognosen in den der Projekte zu wechseln. „Statt lange zu diskutieren und immer neue Verfahren und neue Lehren zu entwickeln, gilt nun die Devise: Einfach machen!“ Mit dieser wohltuend pragmatischen Einstellung unterscheidet sich der Leiter des Fraunhofer Instituts für Materialfluss und Logistik in Dortmund, Professor Michael ten Hompel, wohltuend von der theorielastigen Debatte vieler Zukunftsexperten. Auf dem Zukunftskongress Logistik, zu dem die 34. Dortmunder Gespräche aufgewertet worden waren, pflichtete ihm sein Institutskollege Professor Michael Henke dann auch mit Tatendrang bei: Er plant eine kostenlose Bustour durch das Ruhrgebiet, um von Station zu Station praktische Beispiele auf dem Weg zur digitalen Transformation zu besichtigen. Das Internet der Dinge ist offensichtlich realer, als viele befürchten. Doch es versteckt sich in Produktionslinien und Logistikketten, verknüpft Menschen und Maschinen auf unsichtbare Weise. Der Schritt in die nächste Technologie-Ära vollzieht sich weniger spektakulär als beispielsweise der Start einer Mittelstreckenrakete in Nordkorea.

Dennoch plädierten beide Professoren für den weiteren Ausbau der praxisbegleitenden Forschung. Große Ziele und kleine Projekte seien noch immer die ideale Kombination für den Fortschritt im Mittelstand. Als Beispiel nannte ten Hompel, den am IML entwickelten „Brainbutton“, der bei Stückkosten von 3,70 Euro an zahllosen Stellen als Messpunkte für Materialflüsse dient und damit Analysen der Logistikprozesse in Echtzeit erlaubt. So könnten Produktion und Logistik effizienter gesteuert werden, ohne dass große Investitionen in GPS-Verbindungen und „intelligente“ Maschinen notwendig seien.

Allen Projekten gemeinsam ist jedoch das Ziel, dass Maschinen und Menschen in einem Wertschöpfungs-Netzwerk zusammenarbeiten. So entsteht nach Einschätzung der IML-Professoren eine Social Networked Industry, in der Informationen von Peer to Peer weitergeleitet werden – egal, ob es sich bei den Peers um Menschen oder Maschinen handelt. Der Zukunftskongress beließ es freilich nicht bei der Prophetie, sondern zeigte durch Referenz-Referenten, dass diese Zukunft bereits gelebte Wirklichkeit sein kann. Die von Henke vorgeschlagene Bustour soll auch über den Kongress hinaus interessierte Mittelständler inspirieren. „Man muss kein Sabbatical im Silicon Valley machen und sich einen Hipster-Bart wachsen lassen“, meinte er. Das Ruhr-Valley tut es offensichtlich auch.

In der Tat: Der Mittelstand am Innovationsstandort Deutschland hat Potenzial genug für eine schnelle Adaption neuer Technologien. Was die Entwicklung gegenwärtig bremst, ist die Komplexität der Gesamtvision. Deshalb ist die Aufteilung in überschaubare Projekte, in denen Fehlentwicklungen nicht existenzgefährdend sind, die richtige Vorgehensweise. Das muss die Größe und Klarheit der Vision nicht einschränken. Frühe Fehler, so ermunterte ten Hompel die rund 500 Besucher auf dem Zukunftskongress, seien meist sehr lehrreich. Jedenfalls lehrreicher als Nichtstun.

Es ist wie immer: auch auf dem Weg in die digitale Transformation wäre Nichtstun aus Angst davor, Fehler zu machen, bereits der größte Fehler, den man überhaupt machen kann. Oder wie schon unsere Altvorderen immer wussten: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.

Der globale Reissack

Was waren das für Zeiten, als wir noch unbedacht und achselzuckend ausrufen konnten „…oder wenn in China ein Sack Reis umfällt!“ Der chinesische Sack Reis ist uns inzwischen näher als das berühmte Hemd, während wir kaum noch Rock zum Jackett sagen und deshalb auch diese Volksweisheit schon gar nicht mehr richtig deuten können. Dafür fängt jetzt bei uns der frühe Vogel den Wurm – ein aus dem angloamerikanischen Sprachraum eingebürgertes Sprichwort -, während die Morgenstunde schon lange kein Gold mehr im Mund hat, sondern höchstens Elmex.

Die Globalisierung hat auch vor unserem Sprachgebrauch nicht Halt gemacht. Und für viele Sprachpuristen ist das auch schon wieder Anlass, den Untergang des Abendlandes nahen zu sehen. Denn erst, so die Meinung der Populisten, raubt sie uns die Arbeitsplätze und dann die Identität. Dass diese Einschätzung einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht standhält, hat jetzt die Bertelsmann-Stiftung festgehalten, die Deutschland in ihrem Globalisierungsreport 2016 als einen der Gewinner der Globalisierung identifiziert. Den Deutschen geht es nicht nur besser, seit sich Märkte und Macher international vernetzen. Es gibt auch nur wenige (meist kleinere) Länder, in denen die Bevölkerung noch stärker profitiert hat.

Immerhin den Gegenwert eines Mittelklassewagens – rund 27.000 Euro – hat jeder Deutsche seit der Jahrtausendwende mehr zur Verfügung. Der (ehemalige) Exportweltmeister kann sich unverdrossen auf seine bewährte Strategie als Ausrüster der Weltwirtschaft (Maschinenbau) und Ausstatter der Mobilitätsgesellschaft (Automobilbau) stützen. Das gilt, auch wenn international immer mehr Konkurrenz in diesen und anderen Branchen erwächst.

Denn auch Wettbewerb hat seine guten Seiten. Der wachsende Konkurrenzdruck zwingt zur fortgesetzten Rationalisierung des Fertigungsprozesses. Nicht nur die Produkte werden durch Vernetzung und Digitalisierung immer smarter, ihre Produktion wird es auch. Sie wird allerdings auch immer komplexer. Deshalb ist es keine Überraschung, dass sich Industrie-4.0-Projekte länger hinziehen als die Niederschrift eines Zeitungskommentars, in dem mal wieder die zögerliche Umsetzung des Internets der Dinge durch die deutsche Industrie beklagt wird.

Welche Ausmaße ein solches Projekt annehmen kann, hat Siemens jetzt eindrucksvoll offengelegt. In einer völlig neu konzipierten Fertigungsstraße sammeln rund tausend Sensoren die Informationen über den Arbeitsfortschritt an der nahezu vollständig automatisierten Produktionslinie. Rund eine Million Daten kommen so täglich zusammen, die eine detaillierte Steuerung von Taktfrequenz, Produktvarianten, Stromverbrauch ermöglichen und das Einschreiten bei Störungen signifikant beschleunigen. Nur so, sind sich die Industrie-4.0-Planer sicher, können die Produktionsstandorte hierzulande gesichert werden.

Siemens ist groß und die Welt ist weit, möchte mancher einwenden. Aber auch der Mittelstand operiert an Rationalisierungsprojekten, die nicht nur dabei helfen, Kosten zu sparen, sondern auch die Effizienz und Flexibilität bei der Herstellung immer komplexer werdender Produkte stärken. In den USA, so besagt eine auf den englischsprachigen Raum beschränkte Industriestudie, haben sich bereits zwei Drittel der untersuchten mittelständischen Unternehmen für Cloud-Lösungen und den Einsatz von hochspezialisierten Apps entschieden. Dabei zeigt sich, dass sich die Firmen, die sich für eine Cloud-Strategie entschieden haben, ganz allgemein stärker in Innovationsinvestments engagieren.

Zugleich ist es interessant, dass nach einer deutschen Studie kleine und mittlere Unternehmen den Erfolg einer Innovation vor allem daran bemessen, wie sehr die neue Technik dabei hilft, Kosten zu sparen. In den USA hingegen wird Umsatzsteigerung als ultimativer Erfolgsfaktor gesehen. Dort wird Expansion um jeden Preis gesucht. Bei uns muss erst der Preis stimmen, ehe die Expansionspläne greifen.

Wir können uns nicht gegen die Globalisierung entscheiden, aber wir haben die Wahl der Mittel, wie und in welchem Umfang wir von der internationalen Vernetzung profitieren wollen. Der Wettlauf um die Märkte beginnt an der eigenen Produktionslinie. Die sollte uns immer noch näher sein als der sprichwörtliche Sack Reis.

 

Survival of the Fittest

Die Fitness-Welle, die seit den „Trimm-Dich“-Spielen der goldigen Siebziger Jahre so manchen merkwürdigen Zeitvertreib von Aerobic über Zumba bis Piloxing hervorgerufen hat, verspricht ihren schuftenden, schwitzenden Anbetern körperliche Schönheit und dadurch Lebensverlängerung. Und wer verspicht, andere „fit für die Zukunft“ zu machen, der lässt Bilder von einem agilen Geist in schönen Körpern entstehen. Wer wollte das nicht wollen? Tatsächlich aber dachte der Sozialphilosoph Herbert Spencer, auf den der später durch Charles Darwin berühmt gewordene Begriff vom „Survival of the Fittest“ zurückgeht, gar nicht an Stärke oder Agilität, sondern an eine größtmögliche Anpassung an die äußeren Umstände. „Fit“ ist nicht der Stärkere, so erkannten beide bei der Beobachtung der Evolution, sondern der, der sich auf seine Lebensumstände am besten einzustellen versteht. Das Dasein mag so armselig sein wie das einer Amöbe – aber es zahlt sich aus…

Dass sich diese Erkenntnis auch auf das Wirtschaftsleben ausdehnen lässt, hat schon seit jeher die Beratungsbranche belebt, die besondere Fitness-Trainings fürs Manager und Trendscouts im Angebot hat. Dabei geht es immer weniger um den „Kampf ums Dasein“, sondern vielmehr um den Kampf ums Dableiben. Gründen ist leicht im Vergleich zum Überleben! Das beweist bereits ein Blick auf die Fortune500-Liste, den das American Enterprise Institute veröffentlich hat. Danach waren nur noch 61 Unternehmen, die die Liste der 500 umsatzstärksten Unternehmen vor 60 Jahren aufgeführt hatte, auch 2015 noch dabei – darunter Konzerne, die zahllose Häutungen hinter sich haben wie IBM und General Electric.

Mehr noch: Auf der Basis von Unternehmensdaten aus über 100 Jahren hatte das Marktbeobachtungsunternehmen Innosight schon zuvor die 500 im Standard & Poor´s Index aufgeführten Konzerne untersucht und erstaunliches zu Tage gefördert: Vor 60 Jahren hatten die Unternehmen eine Lebenserwartung von durchschnittlich 60 Jahren, das heißt: über diesen Zeitraum waren sie im S&P-Index aufgelistet. 1980 war die Lebenserwartung schon auf 20 Jahre zurückgegangen. Heute liegt sie durchschnittlich bei zwölf Jahren.

Die Firmen waren ausgelöscht, übernommen worden oder geschrumpft, weil sie sich den neuen Lebensumständen nicht länger anpassen konnten. Sie waren eben nicht „fit für die Zukunft“. Und dabei verlangt die Firmen-Fitness immer häufiger und immer konsequenter nach Neuausrichtung. Die disruptive Kraft der neuen Technologien, die nach der Massenproduktion erst eine Consumer-Orientierung und heute eine Consumer-Zentrierung verlangen, die auf „Losgrößen 1“, volldigitalisierte Geschäftsprozesse und agile Geschäftsmodelle hinausläuft, nimmt an Macht immer weiter zu. Besonders deutlich wird dies überall dort, wo Vernetzung und Digitalisierung „altem Eisen“ neues Leben einflößt: im Automobil- und Maschinenbau, im Einzelhandel, im Gesundheitswesen zum Beispiel. Und hier zeigt sich ein Clash of Cultures zwischen Neureichen und „altem Geld“. Siemens, Bosch, Daimler, BMW und Co. bemühen sich darum, die neuen Herausforderungen durch die alten Strukturen zu leiten, während Google, Facebook und Amazon Zug um Zug neue Betätigungsfelder für sich erobern. Wer dort der Fitteste ist, wird sich nicht an der Größe entscheiden, sondern an der Fähigkeit zur Anpassung.

Das ist die gute Nachricht für den deutschen Mittelstand. Ihm fehlt es zwar durchaus an Größe im Vergleich zu den Elektro- und Internet-Giganten. Aber seine Anpassungsfähigkeit ist legendär. Der Mittelstand sollte daraus sein Fitness-Programm für die Zukunft zusammenstellen.

 

 

Gezählt, gewogen… zu leicht?

Das Menetekel vom innovationsfeindlichen Mittelstand grassiert in Deutschland, seit es den Mittelstand gibt. Erneut gezählt (mene) und gewogen (tekel) haben jetzt ZEW und infas im Auftrag der KfW, um in einer repräsentativen Befragung den Fortschritt der digitalen Transformation bei Unternehmen mit mindestens fünf Mitarbeitern und höchstens 500 Millionen Euro Umsatz zu ermitteln. Das entspricht etwa einer Million Unternehmen in Deutschland. Danach wird nur jeder fünfte Mittelständler als nicht zu leicht empfunden. Sie nehmen die Digitalisierung ernst und investieren in neue Prozesse und Produkte. Nach den Hochrechnungen des Forschungsprojekts ist dagegen ein Drittel des deutschen Mittelstands als digitaler Nachzügler noch kaum aus den Startlöchern gekommen. Zwischen diesen beiden Gruppen befindet sich rund die Hälfte der KMUs, die zwar in Digitalisierungsprojekte investieren, aber nur in homöopathisch kleinen Schritten Fortschritte verzeichnen.

Die Bestandsaufnahme zeigt wieder einmal, wie sehr Zukunftsforscher, Technologie-Evangelisten und ihre Publizisten mit der Präsentation einer digitalen Gesellschaft der Realität im Mittelstand vorauseilen. Müssen sie auch, denn der Mittelstand braucht offensichtlich diese Dauerberieselung an Mahnungen und Meinungen, um sich aus der selbstgefälligen Wohlfühlzone zu bewegen. Das legt auch die KfW-Studie nahe, der zufolge 59 Prozent der Befragten die Kosten der digitalen Transformation als (zu) hoch einschätzen. Bei durchschnittlich 10.000 Euro jährlich, die nach den Ermittlungen der Forschungsgruppe pro Mittelständler in die Digitalisierung gesteckt werden, kann das nur bedeuten: Tatsächlich sind es nicht die realen Kosten, die zu hoch sind, sondern der erwartete Nutzen, der als zu niedrig angesehen wird.

Dabei ist die Bandbreite enorm: große Familienunternehmen investieren bis zu vier Prozent ihres Umsatzes in Forschung und Entwicklung, typisch sind rund drei Prozent. Digitalisierungsbudgets von 200.000 Euro bis zu einer Million Euro werden durchaus auch bei Mittelständlern ausgelobt, wenn dahinter Rationalisierungspotentiale im Sinne von Industrie 4.0 stecken. Dennoch bleibt der Fokus der Digitalisierungsprojekte auf Detailverbesserungen ausgelegt, mit denen bestehende Geschäftsprozesse und Geschäftsmodelle optimiert werden. Die Disruption, also die Umwälzung bestehender Gewohnheiten, bleibt dagegen die Ausnahme. Der Königsweg im Mittelstand heißt Evolution.

Neben geringer Phantasie und Nutzenerwartung mag die unverändert schwierige Finanzierung der digitalen Innovation ein Haupthinderungsgrund sein. Drei von vier Projekten werden aus dem laufenden Cashflow der Unternehmen finanziert. Projektleasing wird mit großem Abstand an zweiter Stelle genannt. Die Aufnahme von Krediten kommt hingegen nur bei fünf Prozent der Aktivitäten zum Zuge. Damit offenbart sich ein bekanntes Grundproblem bei Innovationsprojekten im deutschen Mittelstand: Die Finanzierung von personalintensiven Transformationsprojekten trifft auf nur wenig Gegenliebe und Risikobereitschaft bei den Kreditinstituten, da der Anteil an Sachinvestitionen gering ist. Zum Vergleich: Beim Durchschnitt der traditionellen Sachinvestitionen sind die Kreditgeber in 20 Prozent der Fälle der dabei.

Das ist mit Blick auf Konjunktur und Zinspolitik insgesamt unverständlich. Der Mittelstand ist es freilich gewohnt, dass ihm die finanziellen Mittel nicht beliebig zufließen. Das hat ihn in seinem Innovationsverhalten längst konditioniert. Die digitale Transformation in kleinen Schritten ist insofern auch eine direkte Folge des Kreditvergabeprozesses. Die wahren Innovationsbremsen sitzen folglich in den Banken, die bevorzugt dann das Risiko eingehen, wenn Sachinvestitionen winken. Die digitale Transformation hat ihren Ursprung aber in Denkprozessen und Prozessanalysen. Wenn der Mittelstand mehr Mut zur Innovation schöpfen soll, dann müssen die Banken mehr Mut zur Investition aufbringen. Gezählt, gewogen und für zu risikoscheu empfunden – das gilt für Banken mehr noch als für den Mittelstand.