Urbi @ Orbi

In Bloggerkreisen kursiert ein Satire-Blog, demzufolge Papst Benedikt XVI. in seiner aktuellen Enzyklika den Gebrauch von Virenschutz oder Firewalls beim Datenverkehr untersagt. Das göttliche Geschenk des Going Life, das sich beim Einnisten der Malware im Computerus vollzieht, werde ansonsten ausgeschlagen, der Akt des hacksuellen Internet-Kurses werde zum Freizeitvergnügen ohne Reue. Erst lacht man, dann aber wird man nachdenklich.

Allgemein  werden Viren, Würmer und sonstiges Software-Ungeziefer als Ausgeburt einer Entwicklung angesehen, in der die Zivilisation eine Computerdichte von einem Chip pro Quadratmeter überschritten hat. Doch nicht, weil es das Internet gibt, können die Erreger jeden Ort (urbs) auf dem ganzen Weltkreis (orbis) befallen, sondern weil die Endgeräte mitunter smarter sind als ihre Benutzer.

Nun, der erste richtig große Virus – Elk Cloner aus dem Jahr 1981 (also vor 30 Jahren) – verbreitete sich über Floppys, jenen biegsamen 51/4 Zoll-Disketten, über die Software distribuiert wurde. Während Elk die spielwütigen Apple-Anwender drangsalierte, fuchste fünf Jahre später der Virus namens Brain raubkopierende Windows-User – und wieder war die Floppy der Ort der Kontaminierung. Und der letzte Welterfolg der Malware – Stuxnet – verbreitete sich über den USB-Port auf PCs und Server.

Es ist keineswegs das Medium, das die Epidemie befördert, sondern die Fahrlässigkeit im Umgang mit unserer Umwelt. Zum Höhepunkt des EHEC-Ausbruchs hatte das Robert-Koch-Institut einen absoluten Geheimtipp zur Vorbeugung einer Ansteckung parat: Hände waschen! Auch Krankenhausärzten muss man, wie jüngste Studien zur Hygienesituation in Kliniken belegen, immer wieder hinter die Ohren schreiben, dass Sauberkeit keine Königsdisziplin, sondern eine Bürgerpflicht ist. Das gleiche gilt für Smartphone-Besitzer und Internet-User: safer hacks, sauber surfen!

Denn wir machen uns etwas vor, wenn wir die virale Verbreitung von Schädlingen oder Schadhaftem als technische Herausforderung abtun. Gerade jetzt, wo Google+ das gesamte Internet mit „+1-Buttons“ überzieht, wo schon Facebooks „Gefällt mir“-Schalter die Weblandschaft verschandeln, zeigt sich, dass der virale Befall eher ein gesellschaftliches Problem ist. Ob Aufmerksamkeitserreger (“Like it“) oder Krankheitserreger – wenn alle massenhaft das gleiche tun, begünstigt das nicht nur die Verbreitung von Schädlingen, sondern auch von – Langeweile, Belanglosigkeit, Beliebigkeit.

Die CeBIT will, wie man hört, dem Thema Sicherheit mehr Platz einräumen. Zwar dürften dabei vor allem technische Lösungen für Server-Farmen, Cloud-Rechenzentren und IT-Departments im Mittelpunkt stehen. Die CeBIT wäre aber gut beraten, den gesellschaftlichen Aspekt der viralen Belagerung zu würdigen: Nicht nur kriecht nach wie vor eine große Zahl von Viren und Würmer durch den USB-Port auf die Festplatten. Auch der Reflex, alles und jedes anzuklicken, zu öffnen, zu kopieren oder zu kommentieren – führt zur viralen Belastung der Web-Umwelt. Eine allgemeine Hygiene-Verordnung „für jedermann und überall“ wäre da sicher keine falsche Maßnahme. Innenminister und Verbraucherminister in einer konzertierten Aktion mit dem Papst (der wie, wie es heißt, den Geist der Erkenntnis senden will). Der Gesundheitsminister kommt auch, denn schließlich gibt es gegen den Klick-Infekt doch auch etwas von Ratiopharm. Oder sind wir bereits unheilbar erkrankt? Hier und überall – urbi et orbi?

Vermummungsverbot 2.0

Ich bin nicht Stiller. Ich bin Bonn – und das ist mein Blog. Und die Meinung, die hier vertreten wird, ist meine Meinung – die ich mit anderen teile oder zumindest anderen mitteile (was nicht unbedingt das gleiche ist). Ich flüchte dazu nicht in die Anonymität, sondern – im Gegenteil – suche die Öffentlichkeit. Ich betrachte es als Privileg, erkannt und gekannt zu werden. Ich kann aber die Gedanken derjenigen nachvollziehen, die die Anonymität als Privileg suchen. Sie möchte Innenminister Hans-Peter Friedrich dann ans Licht der Öffentlichkeit zerren, wenn deren Meinungsäußerung nicht dem Mainstream entspricht. Nur: Wer entscheidet darüber, was Mainstream ist und was nicht?

Viele, die den Mut fassen möchten, sich öffentlich zu äußern, suchen dazu den Schutz der Anonymität. Angestellte zum Beispiel, die auf einer Gewerkschaftskundgebung für ihre Rechte und Forderungen einstehen wollen, später aber Repressalien ihrer Arbeitgeber fürchten. Oder Bürgerrechtler, die sich vor rechten Verfolgungen fürchten, wenn ihr Bild oder ihr Name an die Öffentlichkeit gerät. Oder erinnern wir uns an die erste Homo-Demo, die nur möglich wurde, weil die Teilnehmer sich vermummt hatten. Ist, wer im Kölner Karneval mit einer Clownsmaske auf „jeck jebrasselt“ ist, auch schon gleich in die Anonymität gewährende Vermummung geflüchtet?

Die Beispiele sind nicht aus der Luft gegriffen, sondern entstammen der anhaltenden Diskussion um das Vermummungsverbot, das das Versammlungsrecht eingrenzt. Ziel des in Deutschland 1985 verabschiedeten Verbots ist es, die Verfolgung von während Demonstrationen begangenen Straftaten zu erleichtern. Der Aufruf zu Straftaten oder die Schaffung einer argumentativen Grundlage für Straftaten soll jetzt auch nach den Vorstellungen von Innenminister Hans-Peter Friedrich aus der Anonymität gerissen werden. Sein Vermummungsverbot für das Internet sieht vor, dass anonym geäußerte Meinungen im Internet gelöscht werden.

Das ist technisch und moralisch so fragwürdig wie der Internet-Alarmknopf, den Kriminalbeamte nach den Anschlägen von Oslo forderten und der wohl eher dem internationalen Denunziantentum als der globalen Verbrechensbekämpfung gedient haben würde. Dass der Innenminister ein „Offenes Visier“ in der Debatte fordert, ist schon sprachlich eine Meisterleistung, denn das Visier dient im Sport und diente im Kampf dazu, sehen zu können, während zu erwartende Schläge abgewehrt werden. Die Vermummung dient hingegen dem „Nicht-gesehen-Werden“ – unabhängig davon, ob man Schläge austeilt oder einzustecken befürchtet.

„Das Internet ist für so viele Menschen so wichtig geworden,  dass aus dem World Wide Web nicht der Wilde Wilde Westen wird“, hatte unlängst FBI-Direktor Steven Chabinsky als Antwort auf die jüngsten Hacker-Angriff auf US-Einrichtungen und Unternehmen geäußert – und prompt eine Replik von „Anonymous“, der für die Taten verantwortlich gemachten Hacker-Gruppe, erhalten: „Ich möchte Sie fragen, guter Mann, wann war das Internet nicht der Wilde Westen? Glauben Sie wirklich, Sie hätten auch nur die geringste Kontrolle darüber?“

Dass Innenminister Friedrich nunmehr eine ähnliche gelagerte Widerspruchswelle aus der Netzgemeinde erfährt, kann nicht nur nicht überraschen, sondern war (von ihm) erwartet worden. Dabei hat er inzwischen selbst auf die Kritik (auch auf anonyme) reagiert und seinen Sprecher dementieren lassen, im Innenministerium würden entsprechende Gesetzesinitiativen vorbereitet. Leider gibt es aber auch keine Toleranz-Initiative aus dem Innenministerium, die ein gesellschaftliches Umfeld schaffen könnte, dass den Wunsch nach Anonymität obsolet machte.

Thessas Tahrir-Platz

Große Ideen haben meist viele Eltern – und Zeugungsdaten. Während die Vaterschaft für das World Wide Web relativ zweifelsfrei festgestellt werden kann, ist unter Internauten vollkommen umstritten, wann man den Geburtstag des Webs feiern sollte. Für viele hat der März 1989 als Datum Gültigkeit, als Tim Barners-Lee am CERN in Genf das erste Proposal zu einer Markup-Sprache schrieb, die die Nutzung des Internets vereinheitlichen sollte. Der Spiegel hat jetzt den 6. August 1991 ausgegraben – und ich stimme der Redaktion diesmal zu: An diesem Tag vor 20 Jahren wurde das World Wide Web scharf geschaltet. Ein paar staunend formulierte Gedankenschnipsel und ein Glückwunsch…

Die „großräumige Hypermedia-Initiative zur Informationsbeschaffung mit dem Ziel, den einheitlichen Zugang  zu einer großen Sammlung von Dokumenten zu erlauben“ (O-Ton aus Barners-Lees Proposal) sollte eigentlich vor allem den Informationsfluss am Genfer Kernforschungszentrum CERN verbessern. Heute optimiert es nahezu jeden Informationsfluss: Es lässt Menschen in globalen Projekten kollaborieren, synchronisiert ganze Supply Chains im Herstellungsprozess, sorgt für sekundenschnelle Verbreitung von Meinungen und Messages und ruft Manager zu Meetings, Bürger zu Kundgebungen auf den Tahrir-Platz in Kairo und Feier-Biester zu Thessas Facebook-Party nach Hamburg Bramstedt.

(Fast) Jeder kann sich dieser Infrastruktur bedienen, um sich mit dem Rest der Welt abzustimmen. Die Revolution, die sich damit verbindet, ist fundamentaler als der Paradigmenwechsel, der mit der Verfügbarkeit eines persönlichen Computers zu Hause oder eines Handys in der Tasche verbunden wird. Aber so umwälzend die Veränderung auch sein mag, die vor 20 Jahren mit dem Scharfschalten der WWW-Funktionen begann, am Ende wird der Mensch in Gestalt des Users, des Surfers, des Shoppers, Bloggers, Posters oder Providers, doch auf eines zurückgeworfen: auf sich selbst.

Ob 1500-Seiten-Pamphlete zur Rechtfertigung unfassbarer Untaten, ob Veröffentlichung von Geheimdienstdokumenten, ob Hacken von sensiblen Adressdaten – am Ende ist es der Mensch als Wolf, der im Internet-Jagdrevier auf der Pirsch ist, Beute sucht oder einsam den Mond anheult. Das World Wide Web ist nichts ohne den Menschen und alles, was wir daraus machen.

Nichts hat die Welt und die Gemeinschaft so sehr verändert wie das Web. Die DDR hätte das World Wide Web wohl nicht überlebt. Ob die nordafrikanischen Staaten, in denen sich jetzt Widerstand über das World Wide Web organisiert, das Netz der Netze unverändert überleben, darf bezweifelt werden. Dass wir alle ein paar aus dem Ruder laufende Facebook-Partys überleben werden, scheint mir sicher.

2010 wurde das World Wide Web übrigens für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. Weil das für Institutionen nicht geht, sollte die Ehre Tim Barners-Lee zukommen, der für seinen Geniestreich bereits zum Knight of the British Empire geschlagen wurde. Vielleicht wird das WWW noch zum UNESCO-Weltkulturerbe – als größtes von Menschenhand geschaffenes Infrastrukturgebilde: größer als die Chinesische Mauer und verzweigter als der Amazonas.

Jeder – und das ist das wahrhaft Faszinierende – hat seine eigene Website Story. Das WWW ist hochgradig individualisiertes Gemeinschaftserlebnis. Es nötigt uns eine persönliche Reaktion, eine Stellungnahme, eine Verhaltensweise, eine Positionierung in der Work-Life-Balance ab: Sucht oder Zucht, Geplauder oder Geschäft, OnDemand oder OnPremise. Das Auto kann man boykottieren, den PC nicht benutzen – dem World Wide Web entgehen wir praktisch nicht mehr.

Das Plus bei Google

20 Millionen Nutzer in nur drei Wochen – das ist doch was. Mit seinem neuesten Versuch, ins Soziale Netz einzudringen, hat Google bereits eine Reihe von Achtungserfolgen geschafft. Einer besteht darin, zwei Wochen nach dem Start bereits zehn Millionen User zu beherbergen, eine weitere Woche später waren es bereits 20 Millionen. Ob das Wachstum der (noch nicht einmal) Betaversion weiter so anhalten wird, wird Google wohl selbst steuern, denn bis auf weiteres gibt’s das Soziale Netz von Google nur auf Einladung.

Anfangserfolg Nummer Zwei ist die Reaktion von LinkedIn-Chef Jeff Weiner, der ein wenig voreilig das baldige Aus des neuen Konkurrenten vorhergesagt hat: Noch eine Soziale-Netz-Adresse benötige kein Mensch, der mit seiner Zeit noch etwas anzufangen weiß. Das wäre ja gerade so, als hätte man plötzlich mehr als 20 Fernsehprogramme. Oh, hoppla. Ich habe ja mehr als 20 Fernsehprogramme!

Anfangserfolg Nummer Drei sind die anerkennenden Urteile der Analysten, die mit den Google-Funktionen wie Herumhängen, Videomeetings, Freundeskreise etc. ein Plus gegenüber Facebook erkennen, während die durch Suchmaschinen gestützten Features wie „+1“ („Gefällt mir“ bei Facebook) oder Twitter-ähnliche Posts an die Google-Gemeinde das Beste der Konkurrenten übernehmen.

Anfangserfolg Nummer Vier aber ist die Unterstützung, die Google+ durch einen der mächtigsten Internet-Player erhält: Google selbst. Schon jetzt ist abzusehen, wie sich das Soziale Netz mit GoogleDocs, Kalender, Suchergebnissen, Maps und AdWorks zu einer umfassenden Beziehungs- und Bürosoftware zusammensetzt. Ein künftiges GoogleCRM nebst Auftragserfassung, Online-Shop und
-Katalog, Routenplanung und und und ist bereits am Horizont zu sehen. Auch die Einbindung von Smartphones und TabletPCs funktioniert bereits nahtlos. Es ist kaum wahrscheinlich, dass Larry Page der Versuchung widerstehen würde, hier eine alles umfassende Lösung anzubieten. Und warum sollte er auch.

Denn die Integration aller viralen Aktivitäten (muss ja nicht nur Marketing sein) könnte Google schneller schaffen als alle Konkurrenten. Da klingt es keineswegs unwahrscheinlich, dass die 700 Millionen Facebook-Freunde in absehbarer Zeit in Google-Circles eingekreist werden könnten. Eben erst hat sich Facebook dagegen zu wehren versucht, dass die Freundes-Listen einfach so per Mausklick zum Wettbewerbs-Account verschoben werden können. Doch die Erfahrung zeigt: Auch ohne Button zum „Freunde Mitnehmen“ bauen sich Freundeskreise unter echten Netzwerken in Rekordzeiten auf. Das liegt in der Natur der Digital Natives.

Aber geht es überhaupt noch um die Frage, welches Soziale Netzwerk das weltweit dominierende sein wird? Das Potenzial, das Google+ – selbst schon im Vorbeta-Stadium – andeutet, lässt ahnen, welcher Sturm demnächst durch den Werte-Wald im Web wehen wird: Wenn Netzwerke und Freundeskreise künftig alles und jedes im Internet bewerten und damit Suchergebnisse beeinflussen, Links forcieren und unterdrücken können, dann entsteht ein basisdemokratisches Verbraucher- und Interessens-Vertretungsorgan, dessen Dynamik vor keiner Funktion, vor keinem Produkt und vor keiner Meinung Halt machen muss.

Schließlich ist es vom „+1-Button“ zum „-1-Button“ nur noch ein kleiner Schritt. Während wir die Macht der Rating-Agenturen beklagen, die nicht nur Unternehmen, sondern inzwischen ganze Staaten dadurch trockenlegen, dass sie ihnen den Zugang zu Krediten durch Schlechturteile verwehren können, entsteht mit Google und Google+ eine Rating-Agentur für Life, the Universe and Everything.