Kassenlose Gesellschaft

Seit neun Monaten läuft jetzt der experimentelle Vorzeige-Laden von Amazon Go in Seattle und immer noch bilden sich Schlangen – nicht an der Kasse, sondern am Eingang. Weil die Kassen abgeschafft wurden, kommen immer mehr Menschen in den Laden, um das kassenlose Einkaufserlebnis auszuprobieren. Inzwischen sind die Ergebnisse und Erträge wohl so ermutigend, dass Amazon nicht nur im laufenden Jahr sechs weitere Shops ohne Kassen eröffnen will, sondern bis 2021 eine ganze Ladenkette aus 3000 Filialen plant.

Und das allein in den Vereinigten Staaten, die das Potential für Amazon Go hergeben. Denn die vergleichsweise kleinen Läden stehen nicht in Konkurrenz zu den großen Supermärkten und Malls, sondern zu den kleiner ausgelegten Convenience Stores, in denen Waren für den täglichen Bedarf in kleineren Verpackungsgrößen und frisch zubereitete Fertiggerichte vom Sandwich bis zum Salat angeboten werden. Einfach reingehen, registrieren lassen, Regale ansteuern, rausgehen. Den Rest erledigt die künstliche Intelligenz hinter den Amazon Go Stores.

Schon wird die Vision vom servicefreien Leben in Selbstbedienung ohne zweckgebundene Kommunikation heraufbeschworen, in der die Automatisierung nicht nur Kontaktarmut verursacht, sondern auch noch Arbeitsplätze vernichtet. Doch offensichtlich ist das Gegenteil der Fall, wie einige Stippvisiten bei Amazon Go zeigen. Während im klassischen Supermarkt drei bis vier Mitarbeiter pro Schicht Dienst tun, sind es in Seattle eher sieben bis acht, die damit beschäftigt sind, Convenience Food frisch anzurichten, Eingangskontrollen vorzunehmen, Regale einzuräumen und bei den Spirituosen das Alter der Kunden zu checken. Hinzu kommen die Mitarbeiter in der IT, im Backoffice und in der Logistik.

Automatisierung schafft Arbeitsplätze überall dort, wo sich für den Menschen ein Mehrwert ergibt, und vernichtet sie dort, wo dieser Added Value nicht entsteht. An der Kasse entsteht kein Mehrwert, beim frisch zubereiteten Convenience Food aber schon. Das ist der Vorteil einer kassenlosen Gesellschaft, in der das Bezahlen zu einem schlichten Buchungsvorgang vereinfacht wird. Kameras übernehmen dabei die Ausgangskontrolle auf dem Kassenband. Wer was aus dem Regal genommen hat, wird in den videoüberwachten Stores genau aufgezeichnet und im virtuellen Warenkorb vermerkt.

Amazon Go soll neben den USA auch in Großbritannien und Frankreich, wo Intermarché an einer Zusammenarbeit interessiert sein soll, forciert werden. In Deutschland ist dem Vernehmen nach eine Ausweitung der Kaufzone für die kassenlose Gesellschaft noch unklar. Hierzulande sind die Käufer ohnehin erst noch auf dem Liefertripp. Das Berliner Grownup Delivery Hero beispielsweise erfreut sich – auch nach Gerüchten über eine Übernahme durch den Fahrdienstleister Uber – einer Marktkapitalisierung von 7,87 Milliarden Euro. Ungefähr die Größenordnung des MDAX-Neulings Commerzbank.

Und auch bei Lieferservices gilt: was automatisiert werden kann, wird automatisiert; wo ein Mehrwert erzeugt werden kann, wird auch in Personal investiert. Das ist das Grundgesetz der KI-Revolution, deren Tragweite viel weiter reicht als die der digitalen Transformation. Digitalisierung ist die Voraussetzung für Analyse und Automatisierung durch KI. Das lässt sich tagtäglich im Handel beobachten, wo Skaleneffekte sofort zutage treten. Die Investitionen in einen Amazon Go Store, die bei rund einer Million Dollar zusätzlich für die Technologieausstattung liegen, rechnen sich, wenn zugleich die Kosten in der gesamten Logistikkette gesenkt werden können. Die kassenlose Gesellschaft ist dabei ein bemerkenswertes Experiment. In Deutschland müssen wir darauf – wieder einmal – warten.

 

Guter Rat ist Euer

„Wenn man nicht mehr weiter weiß, gründet man einen Arbeitskreis“ – die Verwaltungsweisheit wird dem Volksmund zugeschrieben und unterstellt zweierlei: entweder das versierte Hinauszögern einer Aktion oder den Versuch, die Entscheidungsbasis zu erweitern. Dieter Hallervorden bündelte diese Methode in dem Ausspruch: „Ich brauche mehr Details.“

Es ist ja nun nicht so, als wenn die Bundesregierung in den vergangenen Jahrzehnten nicht kontinuierlich erbetene oder ungefragte Hinweise auf das Handlungsdefizit in Sachen Digitalisierung erhalten hätte. Und es ist auch keineswegs so, als befände sich Deutschland angesichts des digitalen Wandels in einer ausweglosen Situation. Was zu tun ist, liegt eigentlich auf der Hand. Woran es bislang fehlte, war nicht die höhere Einsicht, sondern die Bereitschaft, anzupacken.

An dieser digitalen Bräsigkeit kann und wird auch ein hochkarätiger Digitalrat nichts ändern. Wenn er – wie die Kanzlerin in ihrer Videobotschaft erläuterte – sich um die Themen Breitbandversorgung, Bildung, eGovernment und künstliche Intelligenz kümmern soll, werden Aufgabenstellungen formuliert, die – mit Ausnahme von KI – zu den Evergreens praktisch aller Digitalen Gipfeltreffen der Vergangenheit gehören. Hierzu ist schon so viel an Kenntnis und Erkenntnis beratschlagt worden, dass es schwer fällt, vom Digitalrat noch bahnbrechend Neues zu erwarten.

Hinzu kommt aber, dass Berichten zufolge gar nicht mal unbedingt Einigung darüber besteht, welche Themen auf der Agenda des Digitalrates stehen sollen, wenn er diese Woche zum ersten Mal zusammentritt. Denn da soll unter dem Vorsitz der ehemaligen Staatssekretärin im Bundesverteidigungsministerium Katrin Suder vor allem über Zukunft der Arbeit, Umgang mit Daten, die Gründerszene in Deutschland und neue Partizipationsmöglichkeiten in einer digitalen Ökonomie gesprochen werden.

Das alles sind Themen, die seit Jahren anhängig sind. Einige, wie etwa die Frage, wie wir unsere Arbeit zukünftig gestalten wollen, eignen sich durchaus für einen politischen Marathondiskurs, der für ein zweimal jährlich tagendes Gremium wie gemacht erscheint. Andere wie der Breitbandausbau bedürften eigentlich nicht der Diskussion, sondern nur noch der Aktion. Hier scheitern wir an der Frage, wer womit in Vorleistung zu treten hat – anstatt einfach mal die Versprechungen der Vergangenheit einzulösen.

Der Digitalrat besteht aus lauter ehrenwerten Damen und Herren. Wer an der personellen Zusammensetzung Kritik übt, setzt sich eher dem Verdacht aus, aus Enttäuschung über die eigene Nicht-Nominierung in den Beckmesser-Modus zu schalten. Katrin Suder eilt der Ruf voraus, im Bundesverteidigungsministerium einen guten Job gemacht zu haben, als es darum ging Infrastrukturdefizite der Bundeswehr zu benennen und zu beheben. Ihr guter Rat ist also ebenso wertvoll wie der ihrer Kolleginnen und Kollegen.

Aber wir haben kein Erkenntnisproblem, sondern ein Durchsetzungsproblem. Daran wird der Digitalrat nichts ändern. Ebenso wenig, übrigens, wie die vor Monaten bestellte Digitalstaatssekretärin Dorothee Bär, die ebenfalls mit viel Vorschusslorbeeren ins Amt gelobt wurde und deren Handlungsportfolio bislang doch auch durchaus überschaubar ist.

Nicht durch Rat, sondern durch Tat werden wir den Weg aus dem Digi-Tal finden. Was immer wir vom Digitalrat erwarten können, entscheidend ist, ob sich für diesen guten Rat auch Gehör findet. Es ist nicht mehr die Zeit für große Gesten, sondern für Strategien. Ohne Personal, das – jeder für sich in seinem oder ihrem Ressort – die Ärmel aufkrempelt und zur Umsetzung schreitet, ist dies alles nichts. Von der Gesundheitskarte über die Steuererklärung bis zur Verkehrslenkung, von der Datensicherheit bis zur Sicherheit der Arbeit in einer künstlich intelligenten Welt, von der Infrastruktur für Strom, Daten und Mobilität bis zu klaren Anreizen fürs Gründen, für mittelständische Investitionen und globale Innovationen ist alles gesagt – nur noch nicht von jedem.

 

Das Bild ist der Videobotschaft der Bundesregierung entnommen, in der sich der Digitalrat per Skype präsentiert. Innovativ!

Wir bauen eine neue Stadt

Wer mit offenen Augen durch Stadtregionen mit industrieller Geschichte geht, der erkennt die Symbiose von Arbeiten und Leben in den Strukturen. Zwar kann man angesichts von einem zwölfstündigem Arbeitstag und sechs Tagen pro Woche nicht unbedingt von Work-Life-Balance reden, aber die Gründerzeit war doch geprägt von einer aufkeimenden sozialen Verantwortung für die Arbeiter. Der Altruismus machte sich bezahlt: die Boomtowns füllten die Kassen der Industriellen ebenso wie der Krone.

Wer heute in die Shared-Offices der Internet-Unternehmen oder der Working-Space-Anbieter schaut, sieht ganz ähnliche Strukturen – nur in ihrer hippen Version. Das Bemühen um Work-Life-Balance auf kleinstem Raum: Laptop, Liegen, Latte Macchiato. Auch dieser Altruismus hat nur den Boom als Motiv. Er füllt die Kassen der Internauten ebenso wie die der Finanzämter.

Siemens plant jetzt offensichtlich beides: ein Industrieviertel klassischer Prägung mit der Work-Life-Balance der Digitalwirtschaft – dort, wo schon zu Gründerzeiten eine neue Stadt entstand: Berlin Siemensstadt. In der historischen Industriearchitektur soll jetzt New Work entstehen, wo Berliner Hochschulen ebenso wie die Startup-Szene ein und ausgehen sollen.

Auf dem knapp einen Quadratkilometer großen Gelände an der Nonnendammallee sollen neue Produktionsstätten ausgerechnet in den denkmalgeschützten, rund hundert Jahre alten Gebäuden entstehen, in denen zur Gründerzeit das Schaltwerk und das Dynamowerk untergebracht waren. Die Symbole der dritten industriellen Revolution beherbergen dann die Manifestationen von Industrie 4.0.

Drum herum sollen Wohnungen entstehen – und damit eines der größten Probleme der Startup-Szene in Berlin gemildert werden. Denn ausreichender und vor allem bezahlbarer Lebensraum ist in der Hauptstadt knapp. Entstehen sollen aber auch Labore, Workplaces, ein Hotel, Einzelhandelsgeschäfte und sogar eine Schule. So wie man Berlin kennt, wird dann auch die vegane Kita nicht lange auf sich warten lassen…

Der Rückgriff auf Mechanismen aus der Gründerzeit könnte, sollte er denn Realität werden, Symbolwirkung für Deutschland haben. Denn die Gründerkultur geht hierzulande nach einem Boom nach der Jahrtausendwende wieder kontinuierlich zurück. Zwar kommt mehr Risikokapital ins Land, das in neue Ideen und Startups gepumpt wird. Aber die Gründungsneigung auch unter jungen Menschen bleibt im Vergleich zur Aussicht auf einen sicheren Arbeitsplatz oder Karriere durch Job-Hopping zurück.

Ebenso nachteilig ist, dass sich traditionelle Unternehmen und Startups nach wie vor schwer tun, miteinander Kooperationen einzugehen und voneinander zu lernen. Dabei gilt: Den einen fehlen die Märkte für ihre innovativen Ideen, den anderen die innovativen Ideen für ihre Märkte. Nach einer noch unveröffentlichten Studie von Prof. Julian Kawohl vom Lehrstuhl für Strategisches Management an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin sind selbst DAX-Unternehmen zögerlich bei der Zusammenarbeit der Startups. Zwar wurden in der Studie mehr als 400 Projekte ausgemacht, doch mehr als die Hälfte dieser Kooperationen fiel auf lediglich vier DAX-Konzerne.

Siemens will hier im Rahmen seines Konzepts Vision 2020+ offensichtlich aufschließen und sich als Unterstützer von Startups und Hochschullehre re-etablieren. Denn so war es vor gut hundert Jahren schon einmal in Berlin. Jetzt ist es Zeit für eine Renaissance mit digitalem Anstrich.

Dabei hat das Projekt einer neuen Smart City auch eine politische Komponente. Der Berliner Senat hatte unlängst die Pläne von Siemens abgeschmettert, auf einem historischen Gelände nahe der Museumsinsel die neue Konzernzentrale errichten zu wollen. Derzeit ist der Hauptsitz in München, doch 11.400 Mitarbeiter sitzen in Berlin. Die abweisende Haltung des Berliner Senats hat offensichtlich Methode: Erst im Frühjahr hatte Florian Nöll als Vorsitzender des Startup-Verbands einen Offenen Brief an den Regierenden Bürgermeister Michael Müller gerichtet, in dem er ihm vorwarf, die Startup-Szene in Berlin systematisch zu vergraulen. Zwischen Nöll und Müller gab es inzwischen ein klärendes Gespräch. Zwischen Müller und Siemens-Konzernchef Joe Kaeser sicherlich auch: eine „konstruktive Handhabung“ des Denkmalschutzes, eine Anbindung an den fertigzustellenden Hauptstadtflughafen und natürlich so viel Bandbreite wie möglich sind die Voraussetzungen für den Bau einer neuen Stadt.

Sparen wäre falsch

Er wisse genau, welche Rede er halten müsste, um den Saal zum Toben zu bringen. Leider werden wir nie erfahren, was Jens Spahn seinen neuen Kollegen im Bundesgesundheitsministerium gesagt hätte. Aber wir können es ja mal probieren:

Jens Spahn hätte zum Beispiel sagen können, dass die 8000 Pflegekräfte, die die große Koalition fest eingeplant hat, nur ein erster Anfang sind. Dass also die Zahl der Arbeitsplätze im Pflegebereich stärker dem tatsächlichen Bedarf angepasst werden soll. Angesichts der heute gängigen Praxis, dass Pflegedienste bereits Kündigungen aussprechen, weil sie den zusätzlichen Anforderungen nicht mehr genüge tun können, wäre das ein Satz, der nicht nur den Saal zum Toben gebracht hätte. Vielleicht hätte der Bundesgesundheitsminister auch gesagt, dass die Digitalisierung im Pflegebereich stärker Einzug nehmen soll – zum Beispiel durch Pflegeroboter, die die Mitarbeiter vor körperlicher Überforderung bewahren.

Vielleicht hätte Jens Spahn auch gesagt, dass es nun mit der Entwicklung einer patientenzentrierten, standardisierten, elektronischen Gesundheitsakte ernst werden soll. Ihr Ziel, nämlich die Schaffung eines einfachen, barrierefreien Zugangs für jeden Patienten zu seinen eigenen Gesundheitsdaten, würde die therapeutische Partnerschaft mit dem ärztlichem Fachpersonal stärken. Bisher blieb dieser Plan immer nur in den Anfängen stecken.

Dabei könnte sie wie schon die ebenfalls steckengebliebene Gesundheitskarte unmittelbar Leben retten. Denn je schneller im Notfall die ärztlichen Helfer Klarheit über Vorerkrankungen und Medikamentenversorgung erhalten, desto konkreter können sie eingreifen.

Dazu ist es allerdings auch Voraussetzung, dass die Deutschen sich aus sicheren Quellen über medizinische Themen, Gesundheitsfragen und Vorsorge informieren können. Immer häufiger vertrauen sich Patienten lieber „Doktor Google“ an und versorgen sich bei Doc Morris oder anderen Online-Apotheken mit dem schnell wirkenden Schmerzmittel, das es rezeptfrei over the counter gibt. Die seriöse Beratung wird dagegen einer Diskussion um die Zwei-Klassen-Gesellschaft geopfert.

Der Bundesgesundheitsminister hätte also in seiner ungehaltenen Rede eine Online-Plattform ankündigen können, die ein umfassendes und gut vernetztes Informationsangebot bereit hält. So würde nicht nur die Gesundheitskompetenz in der Gesellschaft verbessert. Die Informationsplattform könnte auch zu mehr Transparenz bei den wahren Kostentreibern im Gesundheitswesen beitragen. Der Nutzen von Therapiepfaden und die dabei verursachten -kosten sind heute doch nur Experten verständlich.

Dabei muss nicht nur ein rechtssicherer Rahmen für Patienteninformationen geschaffen werden, sondern auch für die Apparate und Anwendungen, in denen diese Patientendaten entstehen. Damit ist zugleich die Basis für eine Digitalstrategie im Gesundheitswesen geschaffen, die es Kliniken und Ärztegemeinschaften erlaubt, fach- und therapieübergreifend neue Technologien zu nutzen. Vor allem der Einsatz der künstlichen Intelligenz zur Analyse und Diagnose, sowie zur Wahl der richtigen Therapie und schließlich zu ihrer Überwachung könnte ein Schwerpunkt der Rede von Jens Spahn gewesen sein.

Dazu braucht es neue Formen der Kooperation zwischen den etablierten Trägern der Gesundheitsversorgung und Newcomern wie den Internet-Giganten und Startups der digitalen Wirtschaft. Der Bundesgesundheitsminister hätte darüber reden können, wie traditionelle Medizin und Digitales zu einem neuen Gesundheitswesen 4.0 zusammen geschmiedet werden. Fitness-Tracker, Smart Watches, Gesundheits-Apps und Online-Plattformen gibt es bereits zu Hauf. Aber die Hürden, die überwunden werden müssen, damit alle diese Systeme auch zum Wohle des Patienten zusammenarbeiten können, sind hoch. Aber sie wären die richtige Herausforderung für einen zupackenden Politiker vom Schlage eines Jens Spahn.

Zugegeben – das alles kostet Geld. Und weil das so ist, hat der Bundesgesundheitsminister diese Rede auch nicht gehalten. Aber sparen wäre jetzt das falsche.