Deutscher Gen-Defekt

„KI made in Germany“ soll zu einem „internationalen Markenzeichen für moderne, sichere und gemeinwohlorientierte KI-Anwendungen auf Basis des europäischen Wertekanons“ werden. So formuliert die Bundesregierung die Motivation für ihre KI-Initiative, die sie im vergangenen Sommer beschlossen hat. Seitdem feiert sie diesen Beschluss wie zuletzt auf dem Digitalgipfel Woche für Woche neu, ohne dass sich aber substanziell etwas getan hat. Schon wieder sind drei, vier Monate ins Land gegangen – und die geplanten drei Milliarden Investitionen wurden so oft erwähnt, dass sie publizistisch wie 300 Milliarden wirken. Aber gibt es auch Konkretes zu vermelden? Ich wüsste nicht!

Dafür wird wieder einmal viel geredet. Denn die Worthülse „moderne, sichere und gemeinwohlorientierte KI-Anwendungen auf Basis des europäischen Wertekanons“ klingt wieder ein bisschen danach, als sollte „am deutschen Wesen einmal noch die Welt genesen“, wie Emmanuel Geibel 1861 schrieb. Tatsächlich – die drei Ziele, mit denen die Bundesregierung ihre Initiative versehen hat, sind so altruistisch und sogleich so wunderbar langfristig angelegt, dass wir nicht unbedingt mit einer Revolution oder gar Disruption durch Gründer und Innovatoren zu rechnen brauchen. Sie lauten:

  • Deutschland und Europa sollen sich zu einem führenden Standort für die Entwicklung und Anwendung von KI-Technologien entwickeln. Die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands soll gesichert werden.
  • Mit der Strategie soll eine verantwortungsvolle und gemeinwohlorientierte Entwicklung und Nutzung von KI sichergestellt werden.
  • KI soll im Rahmen eines breiten gesellschaftlichen Dialoges und einer aktiven politischen Gestaltung ethisch, rechtlich, kulturell und institutionell in die Gesellschaft eingebettet werden.

Es ist abzusehen, dass die Deutschen immer noch über den Sinn und Zweck von künstlicher Intelligenz nachdenken werden, wenn die großen Anbieter aus den USA und China das Land längst mit KI-Anwendungen überschwemmt haben werden, die so sympathisch und hilfreich daherkommen, wie Alexa, Siri und Cortana. Services für Smart Homes und Smart Cities werden sich schneller „in die Gesellschaft einbetten“ als sich die jetzt von der Bundesregierung geplanten Diskussionsgremien bilden werden.

Selbst Microsoft, das inzwischen wieder für die zielstrebige Umsetzung der „Intelligent Cloud, Intelligent Edge“-Strategie von den Aktionären geliebt wird, hat sich jetzt in Deutschland erst einmal einen KI-Expertenrat zusammengestellt. In den USA ist sowas offensichtlich nicht nötig. Vor seiner konstituierenden Sitzung, zu der Vertreter von wichtigen Microsoft-Kunden sowie aus Politik und Wissenschaft eingeladen waren, erklärte der ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht, Udo di Fabio, das Gremium sei dazu da,Chancen zu identifizieren und den Rahmen für eine humane Gesellschaft mit KI zu entwickeln.“ Also doch wieder erstmal reden…

Es ist ja nicht so, dass wir dem populistischen Spruch von Christina Lindner folgen sollten: „Digital First, Bedenken Second“. Unsere „Bedenken-First, Bedenken Second“-Haltung zieht sich wie ein nationaler genetischer Defekt durch nahezu alle Technologiesprünge der vergangenen fünfzig Jahre: Mainframes, Personal Computer, Video- und Audio-Medien, Internet, mobile Computing, Cloud Computing, Digitalisierung – und jetzt auch künstliche Intelligenz. Können wir denn nicht einfach mal loslegen?

Kaufhaus des Wissens

Im KaDeWe bekommt man bekanntlich alles – der Konsumtempel gehört zu meinen regelmäßigen Anlaufstellen, wenn ich in Berlin bin. Ich kaufe zwar nichts – aber es gibt mir ein gutes Gefühl, dass ich dort alles bekäme, was ich bräuchte – ein in Stein gehauenes Internet also.

Ganz ähnlich müssen sich Microsoft, IBM und jetzt auch SAP fühlen, wenn sie auf Jungunternehmen und Startups schauen. Man muss ja nicht kaufen, aber es ist ein beruhigendes Gefühl, dass es in diesen Zeiten alles gibt, was das Herz begehrt – von Fintechs und Blockchain über Open Source bis zur künstlichen Intelligenz. Nach Microsoft (mit der Übernahme von GitHub für 7,5 Milliarden Dollar) und IBM (Red Hat für unfassbare 34 Milliarden Dollar) hat jetzt auch SAP wieder mit einer Multi-Milliarden-Investition zugeschlagen und sich den Spezialisten für Online-Marktforschung, Qualtrics, für acht Milliarden Dollar gesichert.

Damit will SAP eine völlig neue Kategorie der betriebswirtschaftlichen Lösungen eröffnen – „Experience Computing“ erweitert das bisherige Geschäft mit dem Kundenbeziehungsmanagement um die neue Komponente Customer Experience. Es geht also darum, nicht mehr nur den Kunden zu kennen, sondern auch den Kunden des Kunden und was er über die Produkte denkt, wann er kauft und warum. Der Markt für Customer Relationship Management ist inzwischen größer als der für die betriebswirtschaftliche Königsdisziplin, das Enterprise Resource Planning: 46 Milliarden Dollar pro Jahr.

Alle drei Akquisitionen stehen im Licht umwälzender Revolution im Markt für Anwendungssoftware: Da ist erstens das Thema Cloud Computing, das eine neue Dynamik in die Bereitstellung von IT-Ressourcen bringt. Da ist zweitens das Thema Open Source, mit dem die Geschwindigkeit, in der neue Anwendungen entstehen, rapide zunimmt. Da sind drittens Abertausende von Startups, die mit disruptiven Idee alles und jeden in Frage stellen. Und da ist schließlich künstliche Intelligenz als Vollendung der Digitalisierung, durch die aus Daten Entscheidungen werden.

Jeder muss sich hier positionieren und gegebenenfalls verlorenes Terrain durch Giga-Investitionen zurückgewinnen. Die Markttreiber tun das derzeit – und da sind zusammengenommen 50 Milliarden Dollar nicht zu viel. Vergleichsweise gering machen sich da die drei Milliarden Euro aus, die die Bundesregierung in den kommenden Jahren für die Weiterentwicklung von KI-Systemen in Deutschland ausgeben will. Auch wenn sie – wahrscheinlich nicht vergebens – darauf hofft, dass dieser Betrag noch durch die Wirtschaft gehebelt wird und sich mindestens verdoppelt: es ist doch kaum mehr als ein Signal an alle, sich hier stärker zu engagieren.

Aber dieses Signal ist auch längst verstanden und wird aufgegriffen. 60 Prozent der Startups, die im aktuellen Startup-Monitor untersucht wurden, haben KI auf ihrer Entwicklungs-Roadmap. Microsoft fordert und fördert auf seiner Cloud-Plattform Azure mit massiven Partner-Programmen die Entwicklung KI-orientierter Cloud-Services und hat darüber hinaus auch in einem tiefgreifenden Revirement die eigene Organisation rund um KI neu aufgebaut. IBM war mit Watson früh – vielleicht zu früh – am Markt. Und auch SAP, das größte deutsche Softwarehaus und das einzige mit globalem Impact, erkennt mehr und mehr, das KI-Funktionen an allen Ecken der betriebswirtschaftlichen Welt neue Nutzungsformen eröffnen – von der Fertigung bis zum Controlling.

Und immer mehr Forschungseinrichtungen in Deutschland springen auf den KI-Zug – und nicht nur solche Lehrstühle, die sich als Software-Avantgarde begreifen. Vom Maschinenbau über die Logistik bis zur Wirtschaftsinformatik wird in Richtung KI-geforscht. Die Fraunhofer Institute ergänzen ihre Spitzenforschung durch praxisnahe Mittelstandsprojekte in der Breite. In all diesen Projekten geht es jetzt darum, wie wir künftig mit Maschinen zusammenarbeiten wollen. Digitalisierung war erst der Anfang. Nach dem Land der Ideen muss jetzt ein Kaufhaus des Wissens entstehen.

Irgendwas mit Cloud

 

Kann man sich noch vorstellen, dass die Studienberatungsstellen Ende des vergangenen Jahrtausends einmal davon abgeraten haben, Informatik zu studieren, weil das Angebot an Studienabgängern in absehbarer Zeit die Nachfrage übersteigen werde. Gut, dass viele Studierende damals auf die anderen MINT-Fächer – also Mathematik, Naturwissenschaften und Technik – ausgewichen sind oder wenigstens Wirtschaftsinformatik belegt haben. Wer das nicht tat, machte „Irgendwas mit Marketing“ oder „Irgendwas mit Medien“.

Anfang des neuen Jahrtausends sah die Welt dann ganz anders aus als in den Prognosen vorhergesagt. Das Y2K-Problem fegte den IT-Arbeitsmarkt leer. Der Hightech-Verband Bitkom identifizierte 30.000 offene Stellen im IT-Sektor, plädierte für die Green Card für gut ausgebildete Ausländer – und SAP sowie andere IT-Konzerne rekrutierten massenhaft Physiker, Chemiker und andere Absolventen analytisch geprägter Studiengänge, um sie als Programmierer, Systemanalytiker oder Berater umzuschulen. Andere – wie etwa Microsoft – setzten globale Schulungsmaßnahmen auf, um ihr Ökosystem fit für die Dezentralisierung der IT zu machen: Netzwerk-Administratoren, Helpdesk-Mitarbeiter und System-Engineers halten seitdem die IT am Laufen.

Inzwischen identifiziert der Bitkom allein in Deutschland ein Defizit von 55.000 IT-Fachkräften. Es würde freilich ohne die Schulungsmaßnahmen der IT-Anbieter noch schlimmer aussehen. Und immer noch bosseln wir an einem Einwanderungsgesetz herum, das uns den nötigen Skill ins Land bringt. Immer noch hängt unser Bildungssystem technologisch hinterher. Und bei einem Rekordtief der Arbeitslosenzahl mit 2,25 Millionen haben wir branchenübergreifend aktuell 834.000 offene Stellen.

Da ist es kein Wunder, dass IBM, SAP oder Microsoft das Bildungsdefizit selbst in die Hand nehmen. Der jüngste Vorstoß kommt mit der Microsoft Learn Platform jetzt aus Redmond. Der Clou dabei ist, dass damit nicht einfach nur eine weitere Zertifizierungsoffensive gestartet wird, sondern neue Cloud-orientierte Wissensgebiete mit bislang noch wenig verbreiteten Lernmethoden eröffnet werden. Microlearning und Gamification heißen dabei die Zauberworte, mit denen lebenslanges Lernen attraktiver und vor allem effektiver gestaltet werden soll.

Microsoft kommt damit auch einer veränderten Technologiewelt nach. Während früher mitunter Jahre zwischen der Ankündigung eines Produkts wie beispielsweise Windows Server und seiner tatsächlichen Markteinführung vergingen, liefern Cloud-Infrastrukturen heute Neuerungen im Wochentakt. Damit muss auch der Skill-Aufbau schneller erfolgen als in den guten alten PC-Zeiten. Doch wie damals, als der Personal Computer zugleich Gegenstand und Werkzeug des Lernens war, ist es heute die Cloud, die sich selbst ihre Kompetenzen schafft.

Die Microsoft Learn Platform wurde jetzt auf der Ignite in Orlando vorgestellt und dürfte erst der Anfang sein im Wettbewerb der Ökosysteme. Denn nach internen Analysen beklagen vor allem die großen IT-Anbieter, dass die technische Entwicklung inzwischen schneller voranschreitet als der Skill-Aufbau. Doch ohne ausgebildetes Personal können die Marktchancen, die sich gegenwärtig im Cloud Computing, im Internet of Things oder rund um die künstliche Intelligenz bieten, gar nicht genutzt werden. Microsoft Learn soll dieses Tempodefizit ausgleichen und neue Jobprofile ausprägen, die „irgendwas mit Cloud“ zu tun haben. Cloud Administrator, Cloud Developer, Cloud Solutions Architect heißen die neuen Fertigkeiten, mit denen die Herausforderungen des Cloud Computings gemeistert werden sollen wie Virtualisierung, Sicherheit, Datenmanagement oder Ressourcenmanagement. Hinzu kommen all die bislang unbekannten Jobs, derer es für die Gestaltung von KI-Systemen bedarf, um Machine Learning und Big Data Analytics voranzutreiben.

Es ist der alte, sich immer wieder bestätigende Wettlauf zwischen Mensch und Maschine. Je mehr die Maschinen können, umso mehr müssen auch die Menschen können. Technologie ist kein Jobvernichter, sondern ein Jobcreator. – Nur, dass die neuen Jobs kaum noch Ähnlichkeit mit den alten haben. Es wird lange dauern, ehe die Studienberater davon abraten werden, „Irgendwas mit Cloud“ zu studieren.

Das Stück vom größeren Kuchen

Die Identität von Firmennamen und Produktnamen ist ein bewährtes Mittel, um ein Angebot im Mindset der Kunden zu verankern. Man fährt einen Daimler und entscheidet sich erst in zweiter Linie für die Klasse. Microsoft hat diesen Versuch nie unternommen. Der Firmenname tritt hinter dem Flaggschiff-Produkt zurück. Microsoft ist in seinen Anfängen die „Gates-Company“ und seit den späten achtziger Jahren die „Windows-Company“. Diese Beinamen haben die Redmonder nie mehr verloren. Niemand käme auf die Idee, das Unternehmen die „Nadella-Company“ zu nennen oder die „Azure-Company“, obwohl genau diese beiden Bezeichnungen heute zutreffender wären als alles andere.

Dabei hat der CEO Satya Nadella in den wenigen Jahren, in denen er bislang das Ruder in Händen hält, der Company eine so vollständige Metamorphose verordnet, dass eigentlich nur noch das Firmenlogo an alte Windows-Zeiten erinnert. Das Unternehmen ist agiler als je zuvor, technologisch auf höchstem Niveau – und in allen wichtigen Wachstumsfeldern der Informationstechnologie gehört Microsoft mit zu den Marktführern. Der Aktienkurs ist längst zu den Höchstwerten aus jener Zeit zurückgekehrt, als Microsoft im PC-Markt ein Quasi-Monopolist war. Die Company ruht auf den Fundamenten von Bill Gates und Steve Ballmer, aber die Architektur des Hauses zeigt die Handschrift des dritten CEOs in der Unternehmensgeschichte.

Denn inzwischen zentriert Microsoft seine Kräfte, an denen allein 64.000 Partner für das Cloud-Angebot rund um die Azure Plattform Anteil haben, auf die entscheidende Infrastruktur der Zukunft: Intelligent Cloud und Intelligent Edge. Unter dieser Strategie, die CEO Satya Nadella im Sommer 2017 verkündet hat, werden nicht nur die Cloud-Aktivitäten für Azure, Office und Dynamics zusammengefasst, sondern – wichtiger noch – auch die Aktivitäten rund um Lösungen der künstlichen Intelligenz. Die jüngsten Reorganisationen zeigen, dass Microsoft mit allen verfügbaren Mitteln auf diesen Multi-Billionen-Markt zielt.

Damit verfolgt Satya Nadella einen weiteren wichtigen Marketing-Grundsatz: Achte nicht nur darauf, dass dein Stück vom Kuchen möglichst groß ist, sondern sorge auch dafür, dass der Kuchen selbst immer größer wird. In der Tat ergattert Microsoft nicht nur einen ordentlichen Anteil am Cloud-Geschäft, am mobile Business, am Gaming-Markt, an Unternehmenslösungen und Industrie 4.0, bei Produktivitätstools und in den sozialen Medien. Es sind auch zugleich die Märkte mit den höchsten Wachstumsraten. Und die Prognosen für das Geschäft mit künstlicher Intelligenz stoßen durch die Decke: Gartner schätzt, dass allein im laufenden Jahr 1,2 Billionen Dollar in künstliche Intelligenz investiert werden. Und auch in den Ländern wächst Microsoft mit dem Markt und im Markt. Denn durch die Cloud entsteht nicht nur mehr Reichweite , die auch die entlegensten Regionen dieser Erde berührt, sondern auch in gesättigten Märkten generiert Microsoft zusätzlichen Umsatz durch seine breite Produktpalette. Deutschland beispielsweise ist einer der am schnellsten wachsenden Cloud-Standorte. Und die Debatte um den digitalen Wirtschaftsstandort Deutschland wird den Kuchen weiter vergrößern.

Mag sein, dass das auch daran liegt, dass der Nutzen der Cloud-Lösungen, der Digitalisierung und von künstlicher Intelligenz für Partner und Kollegen nirgendwo so transparent rübergebracht wird, wie in meinem gegenwärtigen Lieblingsblog im Internet. „Olivers Reisen“ (Link) zeigt Woche für Woche, wo im Cloud-basierten Business die Musik spielt. Oliver Gürtler verantwortet die Positionierung und den Vertrieb aller Dienste der Cloud- und Data-Plattform Microsoft Azure sowie der Server- und Entwicklertools, wie SQL Server, Windows Server und Visual Studio, im deutschen Markt. Mit dem Blog schafft er es, diesen schwierigen Auftrag bei den Lesern  in Akzeptanz und Sympathie umzusetzen. Ich jedenfalls fühle mich durch diesen Blog „inspired“ und „refreshed“ und freue mich auf die Inspire im Juli in Las Vegas. Mal sehen, wie groß der Kuchen dann geworden ist.